Andreas Ellinger

JOURNALISMUS IN WORT UND BILD

Als Skinheads den Ausstieg probten

Veröffentlicht in: Glossen, Justiz

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Stell dir vor, es ist ein Skinhead-Konzert — und nur Aussteiger gehen hin. Wer’s glaubt, wird selig. Wer’s nicht glaubt, sitzt in einen Skinhead-Prozess, wie er bis Dienstag im Rottweiler Amtsgericht lief. Die Anklagebank und das Zeugenzimmer waren voller Aussteiger. Viele von ihnen stammten aus dem Raum Horb. Die Szene scheint ausgestiegen zu sein — oder anders ausgedrückt: Der Ausstieg ist in der Szene Programm und heißt dann wohl Aussteiger-Programm.

Der Ausstieg scheint mehr oder weniger in den Kopf zu steigen. Die Skinheads von einst sind vom Ausstieg motiviert — bis in die Haar-Spitzen, die bei manchen mehrere Millimeter hoch über die Kopfhaut hinausragen. Sicher, so eine Entwicklung muss wachsen. Die Hauptsache ist: Das zarte Pflänzchen Ausstieg keimt und sprießt aus den Köpfen. Die bange Frage: Wird der geistige Nährboden ausreichen, um es zu einem starken Haarbüschel heranwachsen zu lassen?

Die Hoffnung nährte ein Landschaftsgärtner im Zeugenstand, der die Angeklagten erst nach der Schlägerei, um die es im Prozess ging, richtig kennengelernt haben will. Und weil sie alle nach der Schlägerei aus der Skinhead-Szene ausgestiegen sind, muss der Zeuge sie während des Ausstiegs kennen gelernt haben. Ein Ausstieg erhält offenbar nicht nur die Kameradschaft — pardon, Freundschaft. Ausstieg macht Freu(n)de.

Die Symbolik weißer Schuh-Bändel („dass die weiße Rasse überhand nimmt“) muss zum Einstieg in den Ausstieg geführt haben und das unter dem Gruppenzwang, wie er in der Skinhead-Szene üblich ist. Selbst auf den Zuschauer-Sitzen im Gericht nahm ein Aussteiger Platz, der sich mindestens schon zwei Wochen lang keine Nassglatze mehr rasiert hat. Ganz zu schweigen von dem Mädchen, dessen Haarfarbe darauf hindeutete, dass sie an der einen Front aus- und an der anderen eingestiegen ist. Das Motto „Rot statt Blond“ macht’s möglich.

Die Ausstiegs-Sensation lauerte allerdings in den Reihen der Verteidiger. Der jüngste unter ihnen — Anfang 30 — trug einen Stoppelhaar-Schnitt. Er soll in der ältesten Skinhead-Band Baden-Württembergs singen. Mit Noie(n) Werte(n) zum Ausstieg bereit? Die Kapelle wäre ein heißer Kandidat für das Aussteiger-Konzert. Aussteiger allerorten — wenn das kein Aussteiger-Problem gibt. Womöglich schlagen und treten künftig keine Skins mehr zu, sondern Aussteiger. Dann kann nur ein Ausstieg aus dem Ausstieg helfen. Die Staatsschützer werden sich auf Jahre hinaus mit zwei Szenen auseinander setzen müssen. Denn die Skins von heute sind die Aussteiger von morgen. Und die Aussteiger?

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik

Samstag

4

Mai 2002

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
Horb