Andreas Ellinger

JOURNALISMUS IN WORT UND BILD

Ein Kunstwerk als Arbeitsplatz

Veröffentlicht in: Berichte, Kunst

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PDFOriginalartikel aus der Südwest Presse Horb als PDF


Der weltbekannte Architekt Ricardo Bofill arbeitet in einem Sant Juster Zementsilo

 

Rund 420 Bauprojekte haben Ricardo Bofill weltweit bekannt gemacht – unter anderem der Flughafen von Barcelona. In einem ehemaligen Zementwerk der Horber Partnerstadt Sant Just Desvern entwirft der katalanische Stararchitekt seine Pläne.

Sant Just Desvern. Wer nach Sant Just kommt, der sieht als Erstes das überragende Hochhaus Walden 7 und den 112 Meter hohen Turm eines ehemaligen Zementwerks. Beides steht im Zentrum der Stadt nahe Barcelona, und beides trägt die Handschrift des Architekten Ricardo Bofill. Zig Großbauten, ganze Stadtviertel, hat der kreative Kopf entworfen. Er gilt als einer, der katalanische Tradition und Moderne vereint, einer der Sozialwohnungsbauten als Paläste erscheinen lässt. Bofill experimentiert gerne und lässt seiner Fantasie und der seiner Mitarbeiter freien Lauf.

Ein kreatives Ensemble

Der Katalane vergleicht sich mit dem Dirigenten eines bis zu 150-köpfigen internationalen Orchesters, in dem nur die Besten spielen. Architekten, Maler, Designer, Mathematiker, Ingenieure, Stadtplaner und Soziologen bittet er an seinen Tisch, der im Erdgeschoss eines ehemaligen Zementsilos steht. Sieben Stühle stehen um die rund vier Quadratmeter große Platte. Entspannt lehnt er in seinem schlichten Sessel. „Hier entstehen alle Ideen“, sagt Bofill. Sämtliche Projekte der vergangenen 25 Jahre hat er an diesem Platz auf den Weg gebracht. Kritiker sehen in ihm einen modernen Klassizisten – Bofill bezeichnet seinen Stil als „nicht definierbar“. Er bezieht bei Projektplanungen Fachleute und Künstler vor Ort mit ein, er orientiert sich an der Umgebung. Die Gegenwart animiert ihn zum Handeln. „Die Städte sind ein Desaster. Die europäische Stadt ist tot“, sagt er und kritisiert es, dass Treffpunkte verschwinden. „Das zwingt mich dazu, große Pläne zu machen.“ Als „Verteidiger der europäischen und der mediterranen Stadt“ ist er ein Verfechter von Vorstädten.

Das Experiment Walden 7

Als junger Mann begann Ricardo Bofill Alternativen zum rationellen Wohnblock der Nachkriegszeit zu entwerfen. 1974 verwirklichte er in Sant Just ein Experiment in architektonischer und gesellschaftlicher Hinsicht. Es entstand das Walden 7 mit seinen Innenhöfen und Springbrunnen, den abwechslungs- und erkerreich gestalteten An- und Durchsichten. Der 200-Wohnungen-Bau aus rotem Stein sollte alle Lebensformen ermöglichen, die Bewohner sollten Kontakt pflegen. Bofill schuf eine Dachlandschaft mit Liegewiesen, Swimmingpools und Terrassen. Mit einem finanziellen Beteiligungsmodell wollte er günstigen, ästhetischen Wohnraum schaffen. Weitere Gebäude waren geplant. „Ich konnte das nicht zu Ende führen, es war zu fortschrittlich“, sagt der ergraute Meister. Mit Blick auf das Walden 7 sagt er: „Das ist eine experimentelle Architektur, die nicht wiederholt werden kann.“

Die Kosten sparende Bauweise führte anfangs zu Schwierigkeiten. Der Architekt spricht von „Konstruktionsproblemen, die gelöst werden konnten“. Später geriet die Eigentums- Verwaltung immer komplizierter. Bofill beschloss, das Gebäude zu verkaufen. Es stand großteils auf dem Gelände einer ehemaligen Zementfabrik. Statt Geld bekam er den Industriebau, der ein „Inbegriff der Hässlichkeit“ war. In seiner wirtschaftlichen Blütezeit deckte das Werk Sant Just mit Dreck ein.

Urwaldiger Industrie-Park

Ein Jahr lang musste der Architekt seine angehende Kreativ-Werkstatt säubern. „Sie war voll mit Zement.“ Er machte sich daran, den maroden Bau in einen Arbeitsplatz, ein Wohnhaus, ein Kunstwerk, ein kleines Universum zum Leben und Arbeiten zu verwandeln. Ein Ort, an dem das Tokio der Zukunft auf dem Reißbrett entsteht, Projekte in Paris, Prag und Warschau geplant werden. Bofill ließ das Werk ausbeinen und beließ nur die Grundelemente. „Das war wie eine Skulptur“, erzählt er. Das Dach und den großen Garten bepflanzte er mit Palmen und anderen Gewächsen. Sie verwandeln das Anwesen im Zentrum von Sant Just in einen urwaldigen Gewerbepark.

Vier Silos, die heute wie Türme eines industriellen Schlosses wirken, verband Ricardo Bofill zu seinem Architekturbüro, dem „Taller de Arquitectura“. Von einem sehr einfachen Ausgangspunkt aus bediente er sich verschiedener ästhetischer Formen, legte Phase um Phase auf, gestaltete die Innenräume mit ihren kontrollierten Aussichten. Luxus hatte keinen Platz. Es gibt Teile mit klassischen Formen, mit harmonischen Proportionen – an der katalanischen Kultur orientiert und auf moderne Weise ausgeführt.

Japanische und orientalische Einflüsse spielen in die Gestaltung hinein und prägen einen einzigartigen Ort, der für Kritiker kaum zu definieren ist. Die Räume sind voller Emotion. In einem Saal des privaten Traktes sind verrostete Fabrikteile, Silos, als Kontrast erhalten geblieben. Unter dem Gebäude befindet sich ein vier Kilometer langes Tunnelsystem, in dem die Archive liegen.

Architektur ist für den spanischen Meister die Kunst, Raum zu gestalten. Das unterscheide seine Definition von der nordischen, nach der Architektur den Menschen vor der Natur beschützen soll. „Man darf Bebauung nicht mit Architektur verwechseln“, sagt Bofill.

In Deutschland ist er als Vertreter klassizistischer Architektur abgestempelt und in die Nähe der Nazi-Architektur gerückt worden. Obwohl ihn die Friedrich-Schumacher-Stiftung 1968 mit dem Preis für Architektur ausgezeichnet hatte – einer von zwölf bedeutenden Preisen Bofills. „Deutschland wollte moderne Ideen, um mit der Vergangenheit zu brechen“, sagt er. Seit vielen Jahren habe die Bundesrepublik keine internationale Architektur hervorgebracht. Erst in jüngster Zeit entwickle sich in Berlin etwas. Bofill: „Die Geschichte muss eingebettet werden in die Moderne.“

Ständig ein Projekt vor Augen

Was in all den Jahren sein bedeutendstes, schönstes, gelungenstes Werk war? Der 61-Jährige antwortet nicht mit einer Aufzählung. Er erklärt, dass er seiner eigenen Architektur kritisch gegenüberstehe. Sein Team und er analysieren genau,umneue Projekte besser zu verwirklichen. Jeder neue Auftrag ist für Ricardo Bofill eine Herausforderung, und er liebt Herausforderungen: „Der Beginn eines Projekts ist aufregend. Ich muss ständig ein neues Projekt vor Augen haben.“ Gerne würde er einmal in Deutschland bauen. Ob ein Vorhaben groß oder klein ist, erscheint ihm zweitrangig. Wirtschaftsförderer Axel Blochwitz empfahl ihm Horb. Vielleicht finde sich ja ein Investor, meinte er.

Nach 40 Arbeitsjahren ist der Architekt immer noch voller Pläne. Für Barcelona entwirft er beispielsweise einen zusätzlichen Flughafentrakt. In den Büros seiner Mitarbeiter hängen zig Studien von Hochhäusern – Verwaltungsgebäuden und Wohnanlagen. „Ich werde mich zurückziehen, wenn meine Schöpfungskraft zu Ende ist“, sagt Ricardo Bofill. „Dieser Tag wird kommen.“

Andreas Ellinger, Horber Chronik, Südwest Presse Extra

Samstag

25

Mai 2002

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
SWP Extra