Falschaussagen vor Gericht?
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Ein 22-Jähriger Horber soll einen 20-Jährigen geschlagen haben, der sich angeblich nicht mehr erinnern konnte, dass er verdroschen wurde – und folglich auch nicht von wem. Die Augenzeugin, die den Angeklagten ursprünglich als einzige belastet hatte, wusste vor dem Horber Amtsgericht ebenfalls fast nichts mehr – außer, dass es in der Nacht des 15. März „Stress gegeben hat“. Beiden glaubte es der Richter nicht, dass sie nichts mehr wissen. Er verurteilte den 22-Jährigen zu sechs Monaten und zwei Wochen Freiheitsstrafe auf Bewährung und zur Zahlung von 800 Euro.
Der Richter stützte sich in seinem Urteil vor allem auf die Aussagen von zwei Polizeibeamten. Der eine war am Tatabend vor Ort und berichtete, dass der 20-jährige Geschädigte an der Lippe geblutet habe. Hinzu kam ein blaues Auge. Daraus folgerte der Richter: „Dass er geschlagen wurde, ist unstrittig.“
Gemäß der Zeugenaussagen muss es eingangs der Hirschgasse zu der Körperverletzung gekommen sein. Denn jene, die sich noch an den fraglichen Abend erinnern konnten und aus der Neckarstraße kamen, hatten aufgrund des Hausecks nichts mehr gesehen – mit einer Ausnahme: Einer wollte einen „Zusammenstoß“ erkannt haben.
Wer geschlagen hat, darüber konnte oder wollte nur eine Zeugin etwas sagen – und das auch nur gegenüber der Polizei. Seit einem Verkehrsunfall könne sie sich an vieles nicht mehr erinnern, erklärte sie gestern vor Gericht – auch nicht an die Vorkommnisse der fraglichen März-Nacht. Ein Polizist im Zeugenstand bestätigte jedoch, dass sie den Angeklagten vor Ort als einen von zwei Tätern erkannt habe. Und ein zweiter Polizist hatte von ihr in einer späteren Vernehmung eine Täter-Beschreibung bekommen, die zum Angeklagten passte – eine Kleidungs-Beschreibung. Die Zeugin machte diese Angaben, obwohl es in jener Vernehmung um eine andere Auseinandersetzung ging, die sich in derselben März-Nacht ereignet hatte.
Die Verteidigerin forderte einen Freispruch für ihren Mandanten – „in Ermangelung des Nachweises“, dass er zugeschlagen hat. Sie stellte vor allem in Frage, dass zwei Personen auf das Opfer eingeschlagen haben. Das habe nur jene Zeugin gegenüber der Polizei gesagt, die sich vor Gerichts angeblich an nichts mehr erinnern konnte. Dass eine zweite Person der Gruppe des Geschädigten nachgerannt ist, das bestätigten mehrere Zeugen.
Folglich blieb die Frage, ob einer oder beide zugeschlagen haben? Der Angeklagte sagte, er habe nicht zugeschlagen. Er sei weiter die Hirschgasse hinauf gerannt und habe sich übergeben müssen. Er wollte wegen seines Alkoholkonsums allerdings nicht erreichen, als unzurechnungsfähig eingestuft zu werden: „Wenn ich nicht gerannt wäre, hätte ich nicht erbrochen.“
Der zweite oder vielleicht alleinige Täter war sprichwörtlich der „große Unbekannte“ in dem Prozess. Außer dem Angeklagten kannte ihn angeblich keiner – und er wollte den Namen nicht preisgeben. Dieser Unbekannte hat das Urteil maßgeblich beeinflusst, weil eine solche Körperverletzung durch einen zweiten Täter zur „gefährlichen Körperverletzung“ und folglich das Strafmaß höher wird.
Die Vertreterin der Staatsanwaltschaft und der Richter gingen von zwei Tätern aus – und folglich lag die Mindeststrafe bei sechs Monaten, die in diesem Fall um zwei Wochen verlängert und zur Bewährung ausgesetzt wurden.
Selbst wenn der Angeklagte nicht in die Berufung geht, könnte das Verfahren ein Nachspiel haben. Nämlich dann, wenn die Staatsanwaltschaft gegen den Geschädigten und die Augenzeugin mit der fehlenden Erinnerung ein Verfahren einleitet – wegen des Verdachts der Falschaussage vor Gericht. Der Richter betonte in seiner Urteilsbegründung, dass er beide für unglaubwürdig hält.
Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik