Lernen! Für welches Leben?
Veröffentlicht in: Bildung, Kommentare
Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir…“ – dieser Leitsatz scheint aus Zeiten zu stammen, in denen die Lehrer in erster Linie Pauker waren. Generationen von Schülern haben dieses Sprüchlein anhören müssen – und es meist für altkluges Geschwätz gehalten. Später folgte die Gewissheit, dass ein Großteil des Wissens tatsächlich nur für die Schule gelernt wurde…
Eine Internet-Suche nach dem Urheber des Zitats führt zu dem römischen Philosophen, Dramatiker, Naturforscher, Staatsmann und Stoiker Lucius Annaeus Seneca – und zu der Erkenntnis, dass sein Zitat offensichtlich im Laufe der Zeit verändert, wenn nicht gar verfälscht worden ist. Er soll gesagt haben: „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir.“ Und damit wollte er, wie es heißt, seinerzeit Schul-Kritik üben.
Fast 2000 Jahre nach Seneca haben der Diplom-Ingenieur Florian Wiest und der Diplom-Designer Martin Schmitter die Aussage in einem Musterprojekt am Horber Martin-Gerbert-Gymnasium beherzigt, indem sie mit dem (Berufs-)Leben in die Schule gekommen sind. Achtklässler haben mit Begeisterung ein Gestaltungs-Programm auf dem Computer gelernt, weil jenes sie dazu befähigte, Horber Häuser in dreidimensionaler Optik für „Google Earth“ nachzubauen. Die Faszination war groß – die Projekt-Dauer allerdings auf fünf Nachmittage begrenzt.
Wenn MGG-Lehrer Harald Marks im Rückblick bedauert, dass es sich nur um ein Strohfeuer gehandelt habe und solch‘ ein Projekt kaum dauerhaft in den Zeitplan eines achtjährigen Gymnasiums zu integrieren sei, dann offenbart das ein Dilemma des vorherrschenden Bildungssystems: Statt Schülern mittels Begeisterung, mit der ein Kleinkind Laufen und Sprechen lernt, Wissen zu vermitteln, verursachen die Strukturen des Bildungswesens Zeit- und Leistungsdruck, was weitgehend nur ein Lernen nach „Schema F“ ermöglicht – auch wenn das „Schema F“ immer wieder einmal verändert und vielleicht sogar verbessert wird.
Die Schulen befinden sich in einer Zeit, in der eine Finanz- und Wirtschaftskrise ungekannten Ausmaßes vorherrscht, die für viele Menschen mit Kurzarbeit oder unentgeltlichen Überstunden verbunden ist – und in beiden Fällen leiden die Arbeitnehmer unter der Angst vor einem Job-Verlust.
Die Frage, die für die gesamte Gesellschaft von existenzieller Bedeutung ist, lautet: Brauchen wir Rädchen im System, die auf Leistungs-Druck so reagieren, dass sie auf einem bestimmten Level möglichst lange funktionieren – oder brauchen wir selbstständige Menschen, die sich für ihre Aufgaben begeistern und aus Eigenantrieb heraus und damit nachhaltig Höchstleistungen erbringen?
Von der Antwort hängt es ab, ob Kinder und Jugendliche in der Schule weiterhin für ein Leben lernen, das in Bildungsplänen definiert wird – oder ob das reale Leben Schule macht.
Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik
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