Im Kampf um Werte und Wohlstand
Veröffentlicht in: Berichte, Politik
Eine Gemeinschaftskunde-Doppelstunde am Horber Gymnasium mit dem Europaparlaments-Präsidenten
Ein Spitzenpolitiker als Lehrer: Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments, hat am Montag knapp 100 Schülern des Martin-Gerbert- Gymnasiums eine runde Doppelstunde Gemeinschaftskunde gegeben. Mucksmäuschenstill war es, als er den Jugendlichen vom globalen Kampf um Werte und Wohlstand berichtete – und warum Deutschland ohne die EU keine Chance habe.
Horb. Der Landeshaushalt kostet jeden Bürger in Baden-Württemberg 3400 Euro im Jahr, der Bundeshaushalt 4000 Euro und der EU-Haushalt 280 Euro, wie der Horber FDP-Europaabgeordnete Michael Theurer den Schülern erklärte. Als Vorsitzender des Haushaltskontrollausschusses im Europäischen Parlament hat er die Zahlungsströme im Blick: Deutschland steuere 21 Milliarden Euro zum 140-Milliarden-Haushalt der EU bei, 13 Milliarden flössen zurück. Zudem profitiere Baden-Württemberg vom Binnenmarkt in Europa. Der Eindruck, dass Deutschland alles bezahle, aber fast nichts erhalte, stimme folglich nicht. Bezüglich der finanziellen Schwierigkeiten einiger EU-Länder erinnerte Theurer an den Beginn seiner Oberbürgermeister-Zeit in Horb: In der Bürgerorientierung liege der Schlüssel zum Erfolg. „Wir können die Probleme der Zeit lösen. Was in Horb geht, das geht auch im Großen“, sagte Theurer – in Europa.
Es muss gehen! So lautete – verkürzt zusammengefasst – die Botschaft des Europaparlaments-Präsidenten Martin Schulz (SPD), die zugleich ein Appell an die Schüler war: Es gehe darum, „ob sich Europa im Wettbewerb mit anderen Regionen der Welt behaupten kann“. Die Befürchtung des einflussreichen EU-Politikers: Im Jahr 2040 gehöre keine der heute acht größten Industrienationen (G8) mehr zum Kreis der G8. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Staaten wie Südafrika und Brasilien werde „deutlich größer sein als jene Deutschlands“, sagte Schulz. „Deutschland ist in Europa ein großes Land, aber ein kleines in der Welt.“ In China würden pro Jahr mehrere hunderttausend Ingenieure ihr Studium abschließen. „Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, ob wir uns mit anderen Ländern so zusammenschließen, dass wir Wohlstand und Demokratie verteidigen können.“
Dem Sozialdemokraten ging es außerdem um Ökologie, soziale Sicherheit und um die Menschenrechte. In Asien werde billiger produziert als in Europa, weil es keine Tariflöhne gebe, schon Kinder 16 Stunden am Tag arbeiten müssten und Arbeiter im Umgang mit Chemikalien nicht geschützt würden. In China gebe es eine runde Million rechtloser Wanderarbeiter – Sklaven. Der Respekt vor der Demokratie und vor Grundrechten gelte als Wettbewerbsnachteil. Schulz betonte, dass „die europäische Idee“ von Werten geprägt sei.
Er erinnerte an den Klimawandel. Um jenen aufzuhalten, reiche es nicht, in Horber Gemeinderat, im Landtag, im Bundestag oder gar im EU-Parlament Beschlüsse zu fassen. Wenn sich jedoch 27 Staaten zusammenschlössen und den Handel mit anderen Staaten an ökologische Bedingungen knüpfen würden, dann wirke das. Martin Schulz: „Wir können uns auf der Welt nur durchsetzen, wenn wir im Konzert der Großen mitspielen.“ Es gehe nicht darum, ob, sondern wie das Europa angehen müsse.
„Wird es in absehbarer Zeit die Vereinigten Staaten von Europa geben“, wollte ein Schüler wissen. Als er Jugendlicher gewesen sei, habe er davon geträumt, erzählte Schulz. Aber aus einem Deutschen werde nicht so schnell ein Kalifornier und aus einem Franzosen kein Texaner. Er strebe deshalb eine „europäische Föderation mit einer europäischen Regierung und einem europäischen Parlament“ an. In der Übergangsphase könnten der Europäischen Kommission einige Regierungskompetenzen verliehen werden.
Die Wahlbeteiligung nehme seit 1979 ab (seit es Europawahlen gibt), warf ein Schüler ein. Er fragte, wie mehr Transparenz in der EU-Politik geschaffen werden könne? Schulz sagte, sein Ziel als Parlaments-Präsident sei es, „den Regierungschefs klarzumachen, dass sie nicht die Regierung Europas sind“. Sie würden hinter verschlossenen Türen tagen – das Parlament öffentlich. Und es sei das wichtigste Parlament: Rund 70 Prozent der nationalen Gesetze würden von den Europaabgeordneten auf den Weg gebracht. „Die Wahrnehmung ist viel geringer als es die tatsächlichen Befugnisse sind.“ Schulz bezeichnete die Demokratisierung als „eines der wichtigsten Projekte in Europa“. Die Bürger müssten das Gefühl haben, dass sie mit ihrer Stimme etwas beeinflussen könnten. „Wenn Sie Köpfe haben, die zu Programmen passen, dann kriegen Sie eine höhere Wahlbeteiligung“, sagte und hofft der SPD-Politiker.
Und bei der nächsten Europawahl gebe es erstmals europaweit Spitzenkandidaten der Parteien. Das werde ein spannender Wahlkampf – wenn die CDU vielleicht für einen polnischen Spitzenkandidaten werbe und die SPD für einen italienischen. Wer hinterher eine Mehrheit auf sich vereinigen kann, soll dem Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso nachfolgen, der seinerseits noch von den Regierungschefs der EU-Länder gewählt worden ist.
Ein anderer Schüler fragte den Parlaments-Präsidenten, welche Chancen er der Finanztransaktionssteuer einräume. Sie soll als Kostenfaktor bei Finanztransaktionen kurzfristige Spekulationen unattraktiver machen und dadurch die Finanzmärkte stabilisieren. Martin Schulz ist diesbezüglich optimistisch: In elf Staaten werde sie eingeführt, die Finanzminister der anderen Ländern würden sich diese Einnahmequelle sicherlich auch bald erschießen wollen.
Was die Schuldenkrise von Griechenland und Staaten wie Spanien betrifft, so sagte der Parlaments- Präsident im Gespräch mit den Schülern, dass die Bundesregierung gegenwärtig Fehler mache: Durch Sparen lasse sich kein Wachstum erzielen. „Ohne Investitionen in Wachstum und die Beschäftigung von jungen Menschen wird es nicht gehen.“ Er sprach sich für ein Kreditprogramm für kleine und mittlere Unternehmen aus, die gegenwärtig in Griechenland keine Chance hätten, Geld geliehen zu bekommen. „Wir brauchen eine vernünftige Mischung aus Haushaltssanierung und Wachstumspolitik, sagte Schulz.
Um 15 Uhr verließ er das Horber Gymnasium, um 17 Uhr musste er eine Sitzung des Europaparlaments in Straßburg eröffnen. Feierabend war erst gegen Mitternacht.
Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik