Andreas Ellinger

JOURNALISMUS IN WORT UND BILD

Roland Jahn

Veröffentlicht in: Geschichte, Porträts

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PDFOriginalartikel aus der Südwest Presse Horb als PDF


Vom politischen Häftling zum Behördenleiter

 

Roland Jahn (59) stammt aus Jena. Bereits in der 8. Klasse vermerkt die Klassenlehrerin in seinem Zeugnis, er neige dazu „in Opposition zu treten“. 1972 machte er sein Abitur. „Das Abitur 1972, das haben wir noch gemeinsam“, stellte der CDU-Bundestagsabgeordnete und Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel fest, als er Jahn in Nagold begrüßte. „Ich konnte dann studieren und ohne Probleme mein Jura-Examen machen. Sie hingegen konnten zwar mit dem Studium beginnen, wurden dann aber gewaltsam aus diesem Studium verbannt.“

Doch zunächst läuft Jahns Leben in den Bahnen der DDR: „Man wird ja nicht als Staatsfeind geboren“, erklärte er in seinem Zeitzeugen-Vortrag in Nagold: „Man wird zum Staatsfeind erzogen.“ Und das entwickelte sich so:

Roland Jahn im Redaktionsgespräch bei der Südwest Presse. Rechts neben ihm: Hans-Joachim Fuchtel, Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium.  Bild: A.Ellinger

Roland Jahn im Redaktionsgespräch bei der Südwest Presse. Rechts neben ihm: Hans-Joachim Fuchtel, Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium.
Bild: A.Ellinger

„Ich hatte zunächst ein ganz normales Jugendleben. Aber ich wollte einfach ein selbstbestimmtes Leben führen. Und so ist man schon als junger Kerl mit 15, 16 in Konflikt geraten – wenn einem gesagt wird: ,So wie Du rumläufst, mit Deinen langen Haaren, darfst Du kein Abitur machen.‘ Und wenn man dann bei den Schulklassenabenden nicht die Musik spielen darf, die man will, dann fragt man sich: Was ist das für ein Staat? So ging das Schritt für Schritt, obwohl man eigentlich gar nicht dagegen sein wollte. Ich war ein junger Pionier, ich war in der Freien Deutschen Jugend, ich wollte ein Teil des Ganzen sein und ein schönes Leben haben in der Schule, in der Familie. Aber es wurde nicht gestattet, dass ich mir einen Hauch an Selbstbestimmung nehme, einen Hauch von Freiheit.“

Die Konflikte nahmen zu. „Es gab Schlüsselmomente“, sagt Jahn. Dazu zählt er eine Party um das Jahr 1974 herum, „bei der, die Polizei anrückte und recht willkürlich alle Partygänger zusammengeknüppelt hat“. Der Jenaer erinnert sich: „Diejenigen, die sich darüber beschwerten, kamen ins Gefängnis, weil sie sich beschwerten.“ Bis 1974 leistete er seinen Grundwehrdienst bei der kasernierten Bereitschaftspolizei in Rudolstadt:

„Ich wollte ja studieren, ich dachte an eine ganz normale Laufbahn in einem großen Kombinat. Ich wollte Wirtschaftswissenschaften studieren. Dazu muss man vorher zur Armee, zum Grundwehrdienst, das ist ein Pflichtdienst.“

Doch bei der Bereitschaftspolizei hatte er ein weiteres Schlüsselerlebnis: „Dort haben wir geprobt, wie man gegen aufständische Studenten vorgeht, in meiner Heimatstadt Jena. Und da dachte ich: ,Du probst ja hier den Einsatz gegen Dich selbst.‘“ Einmal mehr fragte er sich: „Ist das Dein Staat, in dem Du lebst?“ Der nächste Schritt auf dem Weg in die Opposition hatte weitreichende Folgen für Roland Jahn: „Dann kam der Rausschmiss aus der Universität, nur weil ich Fragen gestellt habe.“ Anlass war die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann.

„Wieso kann man sich das im Sozialismus nicht leisten, eine freie Meinungsäußerung? Aber schon meine freie Meinungsäußerung dieser Frage war zuviel. Was ich später dann in den Stasi-Akten gelesen habe: Der Seminarleiter in der Universität hat alles, was wir im Unterricht gesagt haben, aufgeschrieben und es dem Führungsoffizier bei der Stasi gemeldet. Er war Inoffizieller Mitarbeiter. […] Nach meiner Äußerung haben sie dann bestimmt, dass die eigene Seminargruppe darüber beschließen wird, ob ‚dieser Jahn‘ weiterstudieren darf. Am Vorabend der Abstimmung habe ich mich mit meinen Freunden aus der Seminargruppe getroffen. Wir diskutierten und tranken Bier und sie klopften mir auf die Schulter und sagten: ,Roland, das wird schon, wir stehen zu Dir. Mach Dir mal keine Sorgen.‘ Und am nächsten Tag, 20 Stunden später, kam die Abstimmung: 13:1. Gegen mich. Das war ein Schock. Ich war wie erstarrt. Und dann kamen sie zu mir und sagten: ,Roland, tut mir leid, aber meine Frau kriegt gerade das zweite Kind, ich konnte nicht für Dich stimmen. Das konnte ich mir nicht leisten, dass ich selbst Schwierigkeiten kriege.‘ Und ein anderer sagte: ,Du musst verstehen, mein Vater ist in gehobener Position. Ich kann doch nicht riskieren, dass er Schwierigkeiten bekommt.‘ Ich hab sie alle verstanden, die gegen mich gestimmt haben. Weil ich ja selbst genauso gefangen war im System. Und ich hab mich erinnert, dass ich auch ab und zu geschwiegen habe. Weil ich Angst hatte, dass mein Vater, der auch in gehobener Position war, Schwierigkeiten bekommt. Und da ist das System von Anpassung und Widerspruch.“

Also das System der Diktatur. Jahn:

„Wie entscheidet man täglich? Wie stimmt man ab? Was bringt das für Schwierigkeiten? Für sich selbst kann man es noch berechnen, aber für die Familie schon nicht mehr. Wer will verantworten, dass dem eigenen Vater, der Jahre lang – ohne in der Partei gewesen zu sein – mit seiner Hände Arbeit seine berufliche Stellung erarbeitet hat, der Beruf genommen wird? Und das wegen eines kleinen Stücks Meinungsfreiheit. Das ist etwas, wo man sich täglich entscheiden musste. Und man kann nicht berechnen, was folgt. Wer für mich gestimmt hat, hätte große Schwierigkeiten bekommen können. Aber es hätte auch sein können, dass gar nichts passiert. Und der eine, der für mich gestimmt hat, der durfte weiterstudieren. Das wusste er aber vorher nicht.“

Die Proteste

Roland Jahn protestiert gegen das Bildungsverbot, bei der Staats-Demonstration am 1. Mai, dem Tag der Arbeit:

 „Ich habe mit einem weißen Plakat ohne Worte demonstriert, aber auch das ist eine Demonstration in der DDR gewesen, eine Demonstration gegen die Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Und das ist etwas, was mir Kraft gegeben hat. Ich habe neue Freunde gefunden, wir haben in der Jenaer Szene gelebt. Und wir haben viel Spaß gehabt. Ich betone immer wieder: Es war schön in der DDR, auch in einer Diktatur scheint die Sonne. Das ist etwas, das wir gelebt haben. Wir haben es uns schön gemacht, nicht wegen des Staates, sondern trotz des Staates.“

Einen Anwerbeversuch der Staatssicherheit hat er zurückgewiesen. Und wieder folgte ein Schlüsselmoment:

„Als mein Freund Matthias Domaschk im April 1981 verhaftet worden ist… Er war auf dem Weg nach Berlin zu einer Party von Freunden, um Geburtstag zu feiern. Leider hat er das Pech gehabt, dass an diesem Wochenende der SED-Parteitag war. Und die SED hat angeordnet: ,Keine staatsfeindlichen Elemente dürfen nach Berlin, wenn wir Parteitag haben.‘ Ein junger Mann von 23 Jahren ist gesund und munter nach Berlin gefahren und am Ende war er tot. “

Wie konnte es so weit kommen?

„Am Anfang stand ein Spitzel, der hat einen Bericht geschrieben, in dem drinstand: ,Dieser Domaschk ist ein Staatsfeind.‘ Der hat das seinem Führungsoffizier gegeben, der Führungsoffizier dem Kreisdienststellenleiter, der Kreisdienststellenleiter hat angeordnet: ,Der Domaschk ist aus dem Zug zu holen.‘ Da waren Polizisten, die einfach einen Befehl ausgeführt haben. Dann kam die Stasi und hat ihn nach Gera in die Untersuchungshaft gebracht. Dort wurde er in die Mangel genommen, 48 Stunden im Verhör. Und am Schluss wurde ihm eine Unterschrift zur inoffiziellen Mitarbeit abgepresst. Aber ganz am Ende kam er nicht wieder. Er war tot. Er soll sich erhängt haben, am Heizungsrohr. Ob das stimmt, wissen wir bis heute nicht. […] Das war ein riesiger Schreck, und wieder die Frage: Was ist das für ein Land? Wir wollten doch nur Spaß, nur ein kleines Stückchen selbstbestimmtes Leben haben. Aber mir wurde klar: Es ist kein Spaß mehr. Es geht um Leben und Tod. Das war der Zeitpunkt, zu dem ich gesagt habe: Keine faulen Kompromisse mehr! Wir müssen den Protest nach außen, auch auf die Straße tragen.“

Jahn ging den „Weg des Widerspruchs“ ab sofort noch konsequenter:

„Der 1. Mai hat es mir angetan. Als mir meine Mutter erzählt hat, wie damals bei den Nazis auch am 1. Mai demonstriert wurde, da dachte ich, das kann doch nicht wahr sein: ,Die laufen einfach an den Parteibonzen vorbei, manchmal sogar die gleichen Leute wie noch zu Nazi-Zeiten… Erst haben sie Adolf zugewunken und dann Ulbricht und Honecker.‘ Und dann habe ich mir die Symbole der Diktatoren ins Gesicht geklebt. Ich habe die eine Seite maskiert, so wie Hitler, mit Hitlerbart, und die andere Seite maskiert wie Stalin, den Stalinismus symbolisierend. So habe ich mich neben die Ehrentribüne gestellt, in Jena, dort wo die Parteibonzen standen. Und die Menschen haben zugewunken – bis sie erschrocken sind, weil sie mich gesehen haben. Es hat funktioniert. Sie haben vielleicht darüber nachgedacht, wem sie zuwinken, was sie machen, wie weit die Anpassung geht. Und das war etwas, was für mich auch wieder gut war. Aber am Ende war das ein Punkt, weswegen man mich ins Gefängnis gesperrt hat: Eine ,öffentliche Herabwürdigung des Staates‘ sei es gewesen, wurde gesagt.“

Die Inhaftierung

Am 1. September 1982 hat die Stasi eine kleine polnische Fahne mit dem Schriftzug „Solidarnosc z polskim narodem“ (Solidarität mit dem polnischen Volk) an seinem Fahrrad zum Anlass, genommen, Roland Jahn zu verhaften.

„Dann saß ich im Gefängnis und habe gedacht: Den Prozess willst Du sehen. Ich habe ein halbes Jahr lang die Aussage verweigert und darauf gewartet, bis man mich verknackt. Aber das ist jetzt so einfach dahingesagt. Denn es gab natürlich Momente im Gefängnis, in denen ich überlegt habe, ob der Preis nicht zu hoch ist. Und als mir Fotos meiner dreijährigen Tochter in die Zelle gereicht wurden, da rollten die Tränen. Da habe ich mich schon gefragt: Ist es nicht besser, jetzt bei den Menschen zu sein, die Dich brauchen? Das sind die Momente, wo man kurz vor dem Zusammenbruch ist und nicht weiß, ob man nicht doch einen anderen Weg gehen soll.“

Nach einigen Monaten musste er feststellen, dass die Situation noch schlimmer wird, die Stasi auch vor seiner Familie nicht Halt macht:

„Meine Lebenspartnerin war auch im Gefängnis. Das habe ich durch Klopfen rausbekommen. Sie müssen sich das so vorstellen: Da hat man ein Knast-Alphabet. Einmal Klopfen heißt A, zweimal Klopfen heißt B. Man hat ja Zeit und klopf und klopft… – und fragt dann: ,Wer dort? Hier Roland.‘ So habe ich festgestellt, dass unter mir meine Lebenspartnerin sitzt. Und dann hab ich geklopft: ,Klo, Klo.‘ Das wusste ich von Freunden, die vorher in Haft saßen: Du musst mit dem Scheuerlappen das Klo leer wringen und dann kann man mit dem oben drüber oder unten drunter reden. Und dann habe ich mich sozusagen übers Scheißhaus gebeugt und mit meiner Lebenspartnerin zum ersten Mal nach einem halben Jahr gesprochen. Ich habe gefragt, wie es unserer Tochter geht. Das zur privaten Situation. […] Mein Rechtsanwalt Wolfgang Schnur sagte: ,Das hat alles keinen Sinn mehr. […] Das Beste ist, Du unterschreibst einen Ausreiseantrag und in 14 Tagen kann alles vorbei sein, dann bist Du freigekauft von der Bundesrepublik Deutschland.‘ […] Ich habe an meine Tochter gedacht. Und da hat mir mein Anwalt praktisch meinen Ausreiseantrag diktiert. In dem Moment war ich froh drüber, denn ich hatte eine neue Hoffnung. Viele Jahre später hab ich gelesen, dass er Inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war. Er hat das ganz klar im Auftrag gemacht. Er hat dafür sorgen wollen, dass ich schwach werde, dass ich zerbreche, dass ich einwillige und in den Westen gehe. “

Nach fünf Monaten Untersuchungshaft ist Roland Jahn im Januar 1983 vom Geraer Kreisgericht zu 22 Monaten Freiheitsstrafe wegen „öffentlicher Herabwürdigung der staatlichen Ordnung“ und „Missachtung staatlicher Symbole“ verurteilt worden. Er erklärt:

„Ich habe gelernt – und das haben sie mir auch deutlich gesagt – es kommt nicht darauf an, wer Recht hat, sondern wer die Macht hat. […] Aber ich habe Glück gehabt. Denn es gab Proteste im In- und Ausland, auch im Westen. In der westlichen Presse hat man berichtet über meine Verhaftung und auch über die Verhaftung von Freunden. Und deswegen bin ich dann wieder freigelassen worden.“

Ein paar Wochen später hat er zusammen mit anderen die Friedensgemeinschaft Jena gegründet und die Proteste fortgesetzt. Sein Leitsatz:

„Wir dürfen das Lachen nicht verlieren, sonst haben sie uns so weit… Wir müssen unser Lachen, unsere Menschlichkeit bewahren.“

Den Ausreiseantrag hat Roland Jahn widerrufen:

„Ich war ein notorischer Dableiber. In Jena waren meine Eltern, meine Freunde. Das ist meine Heimat, hier war ich zuhause. Den Antrag habe ich daher für nichtig erklärt. Aber das hat man nicht akzeptiert. Und weil man mich nicht wieder einsperren konnte, hat man mich rausgeschmissen.“

Mit dem Vermerk „Abschiebegewahrsam garantieren“ hat Stasi-Minister Erich Mielke am 6. Juni 1983 den Plan für die Zwangsausweisung von Roland Jahns aus der DDR abgezeichnet. Am 8. Juni 1983 – also vor fast genau 30 Jahren – wurde Roland Jahn auf das Jenaer Wohnungsamt bestellt, wo ihm die Stasi seine Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR mitgeteilt hat.

„Man hat mich festgenommen, mit Knebelketten gefesselt, an die Grenze nach Bayern gebracht, nachts in einen Interzonenzug geworfen – wie ein Stück Frachtgut – und in den Westen gefahren. Über 100 Stasi-Leute waren im Einsatz, um diese Aktion durchzuführen. Das Irre ist, dass diese Freiheit für mich in dem Moment keine Freiheit war. Als ich mit meiner Mutter am Telefon sprechen konnte, sagte sie mit weinender Stimme: ,Man hat uns unseren Sohn gestohlen.‘ Da wusste ich: Diese Freiheit des Westens ist nur eine halbe Freiheit, so lange die Mauer steht und die Familie getrennt ist.“

Der Journalismus

Roland Jahn hat sich in West-Berlin niedergelassen. Er blieb in engem Kontakt zu DDR-Oppositionsgruppen. Für sie baute er eine Brücke in zahlreiche Redaktionen – zu „Kennzeichen D“ (ZDF), zur Tageszeitung „taz“, zum RIAS und zum ARD-Magazin „Kontraste“. Mit dem Fall der Mauer begann für ihn als Autor und Redakteur von „Kontraste“, eine intensive journalistische Auseinandersetzung mit der Hinterlassenschaft der DDR-Diktatur. 2006 wurde er Chef vom Dienst und stellvertretender Redaktionsleiter des Politmagazins.

Abgesehen davon ist Roland Jahn seit 1996 Beiratsmitglied der Robert-Havemann-Gesellschaft. 1999 wurde er Mitglied des Fachbeirats der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und von 2006 bis 2010 Mitglied war er im Beirat der Stiftung „Berliner Mauer“. 1998 erhielt Roland Jahn das Bundesverdienstkreuz, 2005 den Bürgerpreis zur Deutschen Einheit der Bundeszentrale für politische Bildung und 2010 die „Dankbarkeitsmedaille“ der Solidarnosc.

Die Wahl im Bundestag

Der Bundestag hat den ehemaligen politischen Häftling der DDR am 28. Januar 2011 mit fraktionsübergreifender Mehrheit zum neuen Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen gewählt. Abgegeben wurden 535 Ja-Stimmen, 21 Nein-Stimmen und 21 Enthaltungen. Die Ernennungsurkunde erhielt der Bürgerrechtler am 14. März 2011.

CDU-Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel war es bei Jahns Besuch in Nagold und Horb ein Anliegen, „meinen tiefen Respekt für Ihre unglaubliche Zivilcourage zu bezeugen“ – und dafür, „dass Sie die Deutsche Einheit mit auf den Weg gebracht haben“. Fuchtel zeigte sich betroffen: „Wie einfach war dagegen mein Leben in dieser westlichen Demokratie…“

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Südwest Presse Extra

 

 

Im Gespräch mit dem Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik

„Vergeben, ohne zu vergessen“

Zeitzeuge Roland Jahn: „Wer die Freiheit im Interesse der Sicherheit aufgibt, wird am Ende beides nicht mehr haben“

 

Die DDR hat Roland Jahn als Staatsfeind verfolgt – der Bundestag hat ihn gut 20 Jahre nach dem Fall der Mauer zum Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen-Behörde gewählt. Als Chefaufklärer sinnt der ehemalige politische Häftling allerdings nicht auf Rache, wie er in einem Gespräch mit SÜDWEST PRESSE-Redakteur Andreas Ellinger betont hat: Er strebt Versöhnung an, welche allerdings die Reue der Täter voraussetzt. Bei der Aufarbeitung der Vergangenheit hat Jahn die Zukunft im Blick: „Je besser wir begreifen, wie die Diktatur in der DDR im Alltag funktioniert hat, desto besser können wir Demokratie gestalten.“

Horb/Nagold/Berlin. Die Überwachung der DDR-Bürger durch den Staat gilt heute als Unrecht – die Überwachung von Bundesbürgern als sicherheitspolitische Notwendigkeit. Im Gespräch mit dem Zeitzugen Roland Jahn werden Schüler dafür sensibilisiert, wie es um den Schutz ihrer Privatsphäre bestellt ist – beispielsweise bei „Facebook“ im Internet. Auch über den Bundestrojaner diskutieren sie mit Roland Jahn. Das ist ein Programm, mit dem der Staat in private Computer eindringen kann.

In der DDR war es Programm, mit Spitzeln zu arbeiten: Gegen Jahn hat der Staatssicherheitsdienst einst Freunde als Trojaner eingesetzt. Jahn:

 „Es ist hochspannend, wenn ich Diskussionen mit Jugendlichen führe, wie kürzlich an einem Gymnasium. Wir haben plötzlich darüber diskutiert, wie das mit dem Abhören in der Bundesrepublik ist. Wann darf abgehört werden, wie ist das geregelt? In der Folge stellte sich die Frage: Wie viel Freiheit darf man beschränken, um Freiheit zu schützen? Und dabei muss man feststellen: Was nützt uns Sicherheit, wenn die Freiheit nicht mehr da ist? Wer die Freiheit im Interesse der Sicherheit aufgibt, wird am Ende beides nicht mehr haben. Und umgekehrt: Was nützt uns Freiheit ohne Sicherheit? Das richtige Maß zu finden, das ist eine spannende Aufgabe. Da kann man die Erfahrungen aus der Diktatur nutzen, um seine Sinne zu schärfen – um zu entscheiden, wie wir unsere Gesellschaft organisieren, wie wir Freiheit schützen können.“

Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel hat sich die Frage gestellt: „Wer kommt mit dem richtigen Schlüssel, um die Menschen zu öffnen, damit sie so gründlich nachdenken?“ Dabei ist ihm Roland Jahn eingefallen und deshalb hat er ihn zu einem Vortrag nach Nagold eingeladen. Mehr als 100 Leute sind gekommen – unter anderem Auszubildende der Tumlinger Firma Fischer. Jahn sagte:

„Ich finde es toll, dass so viele junge Leute hier sind. Denn es geht nicht nur darum, sich zu erinnern und von alten Zeiten zu reden, sondern es geht darum, dass wir aus dem lernen, was Diktatur war. Mein Leitsatz für unsere Arbeit in der Stasi-Unterlagen-Behörde lautet: Je besser wir Diktatur begreifen, umso besser können wir Demokratie gestalten.“

Hans-Joachim Fuchtel merkte an: „Es wird ja immer wieder gefordert, dass man mehr tun soll, zur Information der jungen Menschen. Da sehe ich zum Beispiel die Firma Fischer auf einem exzellenten Weg.“ Roland Jahn:

„Es geht um Werte in der Gesellschaft. Und jede Firma, die diesbezüglich in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter investiert, hat einen Vorteil – weil damit auch die Persönlichkeitsentwicklung gefördert wird. Wer sich mit der Gesellschaft in der DDR, mit einem Unrechtsstaat auseinandersetzt, der wird mehr und mehr befähigt, den Rechtsstaat zu gestalten. Das ist der Gewinn. […] Die Demokratie ist immer so lebendig, wie wir selbst. […] Und da kann man extrem viel lernen, wenn man in die Vergangenheit zurückblickt und erkennt, dass die Aufbereitung der SED-Diktatur eine gesamtdeutsche Angelegenheit ist. Wenn man sieht, wie westliche Firmen mit der DDR Geschäfte gemacht und ihre Profite herausgezogen haben. Man denke nur an die Häftlingsarbeit und die Pharma-Tests in Krankenhäusern – und die Patienten wussten es zum teil nicht. Das muss jetzt genau untersucht werden. Auch da helfen die Stasi-Akten.“

Roland Jahn appellierte, „genau hinzusehen“, was die Täter betrifft:

„Wie kommt es dazu, dass ein Arzt in der DDR bei Medikamenten-Versuchen mitgemacht hat? Da gibt es keine einfache Wahrheit. Der Arzt wollte vielleicht seinem Patienten helfen, weil kein Medikament da war, und er sah die Chance, aus dem Westen ein Medikament zu bekommen, das seinen Patienten hilft. Daher kann man nicht sagen, der Arzt habe nur verwerflich gehandelt.“

Jahn nannte ein weiteres Beispiel:

„Was ist mit der jungen Frau, die bei einer Party mit Oppositionellen war und die Stasi hat eine Razzia gemacht und sie festgenommen? Dann hieß es: ,Dass Sie mit der Opposition gemeinsame Sache machen, das hätten wir nicht gedacht. Sie sind also auch eine Staatsfeindin. Ob da Ihr Job in der Universitäts-Bibliothek noch angebracht ist, das müssen wir uns erst noch überlegen. Sie könnten allerdings beweisen, dass Sie gar nicht so staatsfeindlich sind – indem Sie uns erzählen, wann solche Partys sind…‘ Wenn sie abgelehnt hat, dann sagte der Stasi-Offizier: ,Aber Sie wissen doch ganz genau, dass Ihr Babysitter nachts nicht so lange da ist. Was werden Ihre Kinder sagen, wenn Sie nicht nach Hause kommen?‘ Da möchte ich die junge Frau sehen, die sich gegen ihre Kinder entscheidet und nicht mit der Stasi zusammenarbeitet. Daher muss man genau hinschauen, wie jemand in die Fänge der Stasi geraten ist.“

Südwest Presse: „Sie schildern, wie Angst und Anpassung in der SED-Diktatur gewirkt haben – sehen Sie in der Bundesrepublik Bereiche, in denen Angst und Anpassung für die Demokratie gefährlich werden könnten?“

Roland Jahn: „Das betrifft die Politik, die Wirtschaft, die Gesellschaft insgesamt. Es geht darum, dass Menschen den Widerspruch wagen… Für jeden gibt es im Alltag Situationen, in denen er sich genau überlegt, ob er einen Widerspruch riskiert oder ob er lieber den Mund hält. Das fängt in der Familie an und geht im Berufsalltag oder im Schulalltag weiter. Es ist wichtig, dass wir in allen Bereichen angstfrei sind – dass durch die Wahrnehmung von Meinungsfreiheit keine Nachteile entstehen können. Und deswegen muss gerade in der Entwicklung von jungen Menschen sichergestellt sein, dass sie in Schule und Beruf keine Nachteile bekommen, wenn sie ein offenes Wort wagen. Das gilt natürlich auch für andere Rechte wie die Pressefreiheit und die Versammlungsfreiheit.“

Südwest Presse: „Wie betrachten Sie vor diesem Hintergrund den Wandel in der Wirtschaftswelt? Manche sagen, an vielen Werkstoren ende die demokratische Grundordnung…“

Roland Jahn: „Es gilt darauf zu achten, dass es keine demokratiefreie Zone in der Bundesrepublik gibt. Die Menschenrechte müssen gewahrt sein – über alles andere kann man streiten. Und dabei darf man nicht an einer Grenze Halt machen. In den internationalen Beziehungen der Staaten Europas, in den wirtschaftlichen Beziehungen mit Griechenland, Zypern und so weiter – da geht es um Partnerschaft und um Fairness. Es kommt letztlich auf jeden Verbraucher an: Jeder, der ein billiges Produkt kauft, sollte sich fragen, wo ist das unter welchen Bedingungen produziert worden? Und jeder sollte sich dessen bewusst sein, dass es seinen Preis hat, wenn die Menschenrechte gewahrt werden. Das muss sich auch jede Firma klar machen, wenn sie Handelsbeziehungen mit China eingeht. China ist kein demokratischer Staat. Wie kann garantiert werden, dass dort Menschen nicht ausgebeutet werden? Wie kann heutzutage garantiert werden, dass bei Pharma-Tests, wenn sie im Ausland gemacht werden, wirklich internationale Standards eingehalten werden? In diesen Fragen können wir aus den Erfahrungen mit der DDR lernen. Auch da gab es diese Handelsbeziehungen. Und wir wissen, man hat sich auf das Wort der DDR-Verantwortlichen verlassen – und am Ende war man verlassen. Die Dokumente in der Stasi-Unterlagen-Behörde zeigen, dass man Leuten vertraut hat, denen es nur um den Machterhalt ging, um devisenträchtige Geschäfte. Auf Kosten der eigenen Bevölkerung.

Der Mühlener Pfarrer Johannes Unz sagte in Nagold zu Roland Jahn: „Mich würde interessieren, inwiefern Sie den Eindruck haben, dass die Verantwortlichen für das Unrecht auch zur Rechenschaft gezogen worden sind? “

Roland Jahn: „Am Anfang stand natürlich auch die Frage des Strafrechts. Da ist es wichtig, den Rechtsstaat hochzuhalten. Denn wir saßen für den Rechtsstaat im Gefängnis und dann kann man ihn nicht beiseiteschieben, wenn es darum geht, die Täter des Unrechtsstaates zu bestrafen. Deswegen ist es ganz wichtig gewesen, dass man da ganz streng rechtsstaatlich vorgeht. Das heißt, nur das, was in der DDR strafbar war, kann zu einer Verurteilung führen. Deshalb sind viele davongekommen. Gerade wenn man so ein Thema wie die Rechtsbeugung nimmt. Das Strafgesetz der DDR hat vieles möglich gemacht und dadurch konnte kaum ein Richter wegen Rechtsbeugung verurteilt werden. Auch die Tätigkeit für die Staatssicherheit war keine Straftat nach DDR-Recht, und so konnten nur diejenigen, die Bundesbürger waren und im Westen spioniert haben, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden – wegen nachrichtendienstlicher Tätigkeit. Der Spitzel aus Westdeutschland, der von einem Führungsoffizier aus der DDR angeworben worden war, hat eine Strafe bekommen, aber der Führungsoffizier, der ihn angeworben hat, nicht. Das muss man erstmal verstehen… […] Es gibt einige hundert Strafverfahren, die zu Ende geführt worden sind. Es sind nur ganz wenige ins Gefängnis gekommen. Zum Beispiel in Folge der Mauerschützenprozesse, bei denen man vom Soldaten an der Grenze bis zum Mitglied des Politbüros alle angeklagt hat. Egon Krenz und Günther Schabowski sind die Prominentesten, die ins Gefängnis gekommen sind. Daran sieht man, dass die Justiz einiges versucht hat.“

Roland Jahn strebt eine Aufarbeitung über das Strafrecht hinaus an:

„Es gibt eine Chance, dass Täter mehr und mehr bereit sind, auch zu bereuen und sich zu ihrer Schuld zu bekennen – das ist ein Weg, der Versöhnung und Vergebung möglich macht. Und das ist das Wichtige: Dass wir die Stasi-Akten nutzen, um aufzuarbeiten, die eigene Geschichte zu reflektieren. Wir müssen versuchen, in der Gesellschaft ein Klima zu schaffen, dass man wieder miteinander auskommt. Es geht nicht um Abrechnung, sondern es geht um Aufklärung – um Aufklärung der individuellen Verantwortung.“

Roland Jahn hat kürzlich in dem Gerichtssaal, in dem er vor 30 Jahren verurteilt worden ist, mit dem ehemaligen Stasi-Offizier Bernd Roth diskutiert. Roth wurde danach wie folgt zitiert: „Ich sage Ihnen ganz offen: Ich habe Sie damals gehasst.“ Doch er hat bereut. Hinterher schrieb er Roland Jahn: „Die Schmach und das Leid, dass Sie und Ihre Freunde ertragen mussten, bedaure ich zutiefst.“ Und Jahn sagte in Nagold: Mein Wunsch ist es: Vergeben, ohne zu vergessen.“ Im Stasi-Archiv lagern, wenn sie aneinandergereiht würden, 111 Kilometer Akten. Der Behörden-Leiter sagt:

„Es ist erstmalig in der Welt, dass die Akten einer Geheimpolizei aus einer Diktatur gesichert worden sind und von den Menschen benutzt werden können, die bespitzelt worden sind von dieser Geheimpolizei. […] Das ist ein Vorbild geworden, in ganz Osteuropa. Und neuerdings kommen Politiker und Menschenrechtsaktivisten aus den Staaten der arabischen Länder und wollen wissen: ,Wie habt Ihr das in Deutschland gemacht, wie nutzt Ihr diese Akten‘. […] Der Anblick dieser Akten ist ein Monument der Überwachung, ein Monument, das die Repression in der Diktatur deutlich macht. Aber es ist auch ein Ausdruck des Freiheitswillens der Menschen. Wir haben es geschafft, wir haben am Ende eine friedliche Revolution gemacht und das ist einmalig gewesen in der deutschen Geschichte: Eine erfolgreiche Revolution, die zum Mauerfall und zur deutschen Einheit geführt hat. Die Deutsche Einheit haben die Menschen geschaffen, insbesondere die Menschen in Ostdeutschland.“

Welche persönliche Bilanz zieht der Bürgerrechtler? Eutingens Pfarrer Beda Hammer erkundigte sich, wie das Leben für Roland Jahn, seine Lebensgefährtin und ihre gemeinsame Tochter weiterging – nach der Freilassung aus dem Gefängnis 1983. Roland Jahn:

„Meine Lebenspartnerin hat gesagt: ,Ich will nicht länger von der Großzügigkeit der Staatssicherheit abhängig sein. Ich geh in den Westen.‘ Und ich hab gesagt: ,Nein, jetzt muss man durchhalten.‘ Das hat zum Zerwürfnis geführt. Wir haben uns getrennt, obwohl wir gute Freunde sind. Da sehen Sie mal, was das damals für ein Spannungsverhältnis war. Ich hatte meine Eltern in Jena und das war meine Heimat – das war damals ein Punkt für mich. Aber gerade die politische Vision, jetzt noch einmal dagegenzuhalten, die hat mich getrieben. Meine Lebenspartnerin wollte einen anderen Weg gehen. Und es war nicht möglich, einen Weg zu gehen, der beides möglich macht. Das war entweder-oder.… Und das wirkt bis heute bei mir nach. Meine Tochter hat mich nach über 20 Jahren gefragt: ,Papa, dass Du geblieben bist, damals, das war doch eigentlich auch eine Entscheidung gegen mich?‘ Ich konnte ihr keine Antwort geben. Es rollten genauso die Tränen wie damals im Gefängnis, als die Stasi-Leute mir Fotos von ihr gezeigt haben.“

 

Wer hat in Westdeutschland für die Stasi gearbeitet? Antworten finden sich vielleicht in 90 Säcken mit zerrissenen Akten

Roland Jahn, der Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, berichtete in Nagold, in welchem Ausmaß es Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes gelungen ist, nach der Friedlichen Revolution in der DDR noch Akten der Geheimpolizei zu vernichten: „Dort, wo es keine Häcksler gab, da haben sie Akten zerrissen. Die Schnipsel haben sie in Säcke gepackt, um sie später zu verbrennen. Aber ein Großteil der Säcke konnte vor der Vernichtung bewahrt werden. 15 000 Säcke mit Schnipseln. Was ist da drin? Wir wissen es nicht genau, bislang sind die Säcke nur grob angeschaut worden. Es ist mühsam, das von Hand zusammenzusetzen. Aber wir haben schon 1,3 Millionen Blatt rekonstruiert.“

Arnold Tölg, der ehemalige CDU-Landtagsabgeordnete des Kreises Calw, meldete sich zu Wort: „Ich hab mich immer gewundert, dass nicht aufgedeckt wurde, wer aus den westdeutschen Parlamenten, aus der Wirtschaft und aus den Kirchen bei der Stasi war. Ich habe selbst die Erfahrung gemacht, wie die versucht haben, anzuwerben… . […] Warum hat man nicht die Westdeutschen enttarnt, die sich diesem System untergeordnet haben?“

Den Grund dafür konnte ihm Roland Jahn nennen: „Die Hauptverwaltung ,A‘ der Stasi, das war die Spionage-Abteilung, durfte sich selbst auflösen. Das hat der Runde Tisch damals beschlossen. Der Runde Tisch ist eine Einrichtung gewesen, an dem die alte DDR-Regierung und die Opposition gemeinsam den Übergang verhandelt haben. Da saßen auch noch Stasi-Offiziere mit am Tisch. Am Ende wurde festgelegt, dass sich die Hauptverwaltung ,A‘ selbst auflösen darf. Und das hieß, die vernichten alles, was nur geht. […] Die Folge ist, dass nur bruchstückhaft Akten zur Westarbeit der Stasi da sind. Wir hoffen aber, dass wir aus den Säcken mit den Schnipseln noch einiges erfahren. Zumindest wissen wir, dass 90 Säcke Material der Hauptverwaltung A‘ enthalten, also Material von der Westarbeit der Stasi. In so einem Sack sind ungefähr 6000 Seiten, zerrissen. Und diese 90 Säcke wollen wir natürlich noch zusammensetzen. Deshalb hoffen wir auf den Deutschen Bundestag – dass der ein Projekt der Fraunhofer-Gesellschaft weiter, finanziell unterstützt, mit dem eine virtuelle Rekonstruktion der Unterlagen ermöglicht werden soll. Das ist noch in der technischen Entwicklung. Aber die ist jetzt so weit, dass in den ersten Tests rund 1000 Seiten zusammengesetzt wurden. […] Vielleicht gibt’s da noch eine Enthüllung…“, sagte Roland Jahn.

Manche Bundesbürger wurden Opfer der Stasi. Zum Beispiel, wenn sie nach West-Berlin oder zu Verwandten in die DDR gefahren sind, wie Jahn erklärte: „Mit den Identitäten der Westbürger, deren Pässe die Stasi an der Grenze unbemerkt kopiert hat, hat sie neue Pässe angefertigt, also Pässe gefälscht. Die haben den Westbürgern die Identität gestohlen. Und mit den gefälschten Pässen, mit neuem Passbild, sind Stasi-Agenten durch Westeuropa gereist. All das konnten wir in Dokumenten nachlesen, die wir zusammengesetzt haben aus den Schnipseln.“

Dem SPD-Abgeordneten Dieter Schanz (Bundestag) ist das in den 80er-Jahren widerfahren. Mit seinem Namen war ein Stasi-Mann unterwegs: „Die Aufklärung des Falls wurde möglich, weil von er Stasi zerrissene Unterlagen in den letzten Jahren manuell rekonstruiert worden sind“, sagte Roland Jahn. „Das heißt es lohnt sich, diese Schnipsel zusammenzusetzen, weil es auch einzelnen Menschen hilft. Manche haben aus den Schnipseln heraus die Dokumente gefunden, mit denen sie nachweisen konnten, dass sie aus politischen Gründen in Haft waren. Das heißt, sie bekommen jetzt einen Ausgleich bei ihrer Rente und eine Rehabilitierung. Das ist wichtig für Menschen, die in der DDR der Repression ausgesetzt waren, dass sie der neuen Demokratie vertrauen können.“

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Südwest Presse Extra

 

 

Kommentar

Vom Akteur zum Redakteur

 

Der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Roland Jahn hat nach seiner Zwangsausweisung aus der DDR am 8. Juni 1983 als Journalist gearbeitet – unter anderem für ARD und ZDF. Er hat für die DDR-Opposition Videokameras beschafft und sie in den Osten schmuggeln lassen. Vor allem das Politmagazin „Kontraste“ hat das Filmmaterial über die unterdrückte Demokratie-Bewegung, den Verfall der DDR-Städte und die Umweltverschmutzung gezeigt. Was hat das damals bewirkt?

Roland Jahn: „Das war wichtig, dass die Menschen informiert worden sind. Damit ist das Informationsmonopol der DDR-Staatsmacht durchbrochen worden. Keine freie Information zuzulassen, ist in der Diktatur Methode gewesen – um die Leute uninformiert und stumm zu halten und sie damit zu unterdrücken. Es galt, das zu durchbrechen und auch der Opposition eine Stimme zu geben. Gerade auf das Wendejahr 1989 hin ist das wichtig gewesen – damit DDR-Bürger sehen konnten, wie sich die Stimmung in der Bevölkerung entwickelt, dass es Oppositionelle gibt, die sich Gedanken gemacht haben, was sich ändern muss, um eine demokratische Entwicklung einzuleiten.“ Heimlich gedrehte Aufnahmen zeigten, wie groß die Leipziger Montagsdemos geworden waren – und dass der Protest der Massen friedlich erfolgte.

Roland Jahn hat es geschafft, vom Aktivisten zum Beobachter zu werden – journalistisch-puristisch. Er ist als Erster mit einem Fernseh-Team in die Stasi-Archive vorgedrungen. Seine heutige Pressesprecherin Dagmar Hovestädt hat ihn einst als „Kontraste“-Kollegin auf folgende Beobachtung angesprochen: „Am Anfang des Films werden ja diese elektronischen Datenträger zerschreddert – und jedes Mal erschrickst Du Dich…“

Jahn: „Ja, das ist schlimm, weil man als Dokumentarist manchmal ein bisschen ohnmächtig ist. Eigentlich hätte man diese elektronischen Datenträger einfach klauen sollen, bewahren sollen. Ich glaube, dass wäre fast wichtiger gewesen, als den Film zu zeigen.“

Aber er hatte sich entschieden, den Film zu machen: „Magnetplattenspeicher aus dem zentralen Computer der Stasi. Darauf gespeichert, die Daten von Millionen Bürgern. ,Kontraste‘ ist Zeuge ihrer Vernichtung, letzten Freitag in Ost-Berlin. Die elektronischen Datenträger enthielten Informationen über alle Mitarbeiter der Stasi, ihre Spitzel und ihre Opfer. Die Metallteile werden aufbereitet und später zu Löffeln oder Kochtöpfen umgeschmolzen. Aus dem Plastik der Datenträger sollen Einkaufsnetze werden. […] Vor der schnellen Vernichtung der Computerdaten gab es keine umfangreichen Einblicke und Kontrollen darüber, was da alles unwiderruflich zerstört wird.“

Dieser Film über die Stasi-Archive berichtet am Ende von einer Entdeckung in eigener Sache: „Über Roland Jahn gibt es mehrere Aktenteile, so genannte Vorgänge. […] Noch unter der Regierung Modrow wurde diese Akte fortgeführt, beim Stasi-Nachfolger ,Amt für Nationale Sicherheit‘, obwohl es offiziell von der SED-Regierung hieß, niemand werde mehr bespitzelt. Westberlin, der Wohnort des Kontraste-Autors wird in der Akte als Operationsgebiet bezeichnet. Bespitzelt wurde vor allem seine journalistische Tätigkeit: ,Im Berichtszeitraum konnten weitere Hinweise zur journalistischen Tätigkeit des Jahn für die politischen Magazine erarbeitet und dokumentiert werden. So soll Jahn ein eigenes Zimmer in der Redaktion des SFB haben. Mehrfach konnten Kontaktaufnahmen des Jahn aus dem SFB mit Verbindungspersonen festgestellt werden.‘ Folgende Aufträge wurden an Spitzel erteilt: ,Feststellung des Zeitrhythmus und Tagesablaufes, typische Verhaltensweisen und Reaktionen in besonderen Situationen, Hinweise zum Privatleben, Kontakt zu seiner Tochter, zu Frauen, Arbeitszeit und Benutzung von Verkehrswegen, Einschätzung der Hausbewohner und ihre Stellung zu Jahn, Objekt Wohnhaus des Jahn, Außen- und Innenaufnahmen wie Zugänge, Einfahrten, Klingel, Treppenaufgang, Hof.‘ […] Es gibt Millionen Akten. 40 Jahre DDR-Geschichte.“ Um deren Aufarbeitung kümmert sich Roland Jahn heute als Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen.

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Südwest Presse Extra


Zu den Originalberichten in der Südwest Presse Horb:

Roland Jahn: Vom politischen Häftling zum Behörden-Leiter

„Vergeben, ohne zu vergessen“

Kommentar: Vom Akteur zum Redakteur

 

Samstag

1

Juni 2013

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
SWP Extra