Haydar Sahin bezahlt für die Fehler der Ermittler
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Wie vier Monate Untersuchungshaft die Existenz eines unbescholtenen Horbers zerstört haben
Wer als Vertrauensperson für die Freudenstädter Polizei arbeitet, der riskiert seine Existenz. Der ehemalige Horber Gastwirt Haydar Sahin hat den Beamten bei Ermittlungen gegen einen Kneiper-Kollegen geholfen und ist dafür vier Monate ins Gefängnis gekommen – in Untersuchungshaft wegen angeblicher Falschgeld-Geschäfte. Jener Kneiper-Kollege, auf den er von der Polizei angesetzt worden war, hatte ihn belastet – zu Unrecht, wie das Horber Amtsgericht festgestellt hat. Es sprach Haydar Sahin frei.
Sogar die Anklägerin der Staatsanwaltschaft forderte Freispruch – am Ende eines Verfahrens, in dem die Ermittler ihrer Vertrauensperson weniger geglaubt hatten, als der Zielperson ihrer Ermittlungen. Der Richter sagte in seiner Begründung des Freispruchs: „Wir haben heute eine Kostprobe davon bekommen, wie da wohl ermittelt worden ist“ – mit Existenz zerstörenden Folgen für Haydar Sahin.
Ein Beispiel, wie die Ermittler vorgegangen sind, nennt der Sahin-Verteidiger Michael Löffel aus Horb: „Letztlich ist es völlig unverständlich, dass die zentrale Figur des vorliegenden Sachverhalts, die vermeintliche Falschgeldkurierin bei ihrer Verhaftung am 30. März 2004 weder intensiv durchsucht, noch zu den angeblichen Falschgeld-Geschäften mit dem Angeschuldigten und einem anderweitig Verfolgten befragt und vernommen worden ist, obwohl die laufenden Ermittlungen polizeibekannt waren.“ Die Frau ist nach Bulgarien abgeschoben worden.
Haydar Sahin blieb nach seinem Freispruch gefangen: Der staatliche Zwang wich materiellen Zwängen. Die so genannte Freiheit bot ihm eine zwangsgeräumte Wohnung, ein ohne Verfahren geräumtes Gasthaus, ein leeres Bank-Konto, keine Arbeit, keine Sozial- oder Arbeitslosenhilfe und Monate lang keine Haftentschädigung. Elf Euro ist dem Staat die Freiheit eines unbescholtenen Bürgers pro Tag wert. Im Fall von Haydar Sahin waren das 1408 Euro, die ihm per Gerichtsbeschluss am 15. Dezember 2004 zugesprochen worden sind – Anfang April 2005 bekam er das Geld erst von der Landesoberkasse, obwohl sein Rechtsanwalt die Staatsanwaltschaft wiederholt darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sein Mandant mittellos sei.
Haydar Sahin war nach viermonatiger Haft bei seiner Ex-Frau untergekommen – sie bewahrte ihn vor der Obdachlosigkeit, obwohl sie nur vom Arbeitslosengeld II lebt. Haydar Sahin hatte im vergangenen Sommer – kurz nach seiner Verhaftung – Überbrückungsgeld für seine Gastwirtschaft bezogen. Das ging während seiner Haft vor allem für zwei Monate Kneipenund Automaten-Pacht sowie für eine alte Stromrechnung drauf. Gleichzeitig habe er wegen des Überbrückungsgeldes keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld – so sei ihm in der Agentur für Arbeit erklärt worden. Auf einen Anruf der SÜDWEST PRESSE stellte sich aber heraus, dass er sehr wohl Arbeitslosengeld bekommen kann.
Das ändert nichts mehr daran, dass er drei Monate lang ohne einen Cent an Einkünften auskommen musste, weil es in Sachen Arbeitslosengeld mindestens ein Missverständnis gegeben und der Staat ihn so spät für seine Haft entschädigt hat. Die Staatsanwaltschaft wollte – wie es üblich sei – warten, ob Sahin weitere Ansprüche geltend macht und dann die gesamte Summe überweisen.
Und der entlassene Häftling hat Ansprüche geltend gemacht – bisher aber vergebens. Sein Kassabuch, das er als Nachweis für seine Einkommens-Verluste bräuchte, wähnte er anfangs zusammen mit seinem Pass und seinem Gabelstapler-Führerschein bei der Staatsanwaltschaft. Die Dokumente hätten in seinem Wirtshaus – der „Krone“ gelegen, als die Polizei dort durchsucht habe, sagt er. In der Beschlagnahme-Liste sind sie aber nicht aufgeführt.
Eine Gewinn-Prognose eines Steuerberaters hat Haydar Sahin noch. Sie genügte der Arbeits-Agentur, um das Überbrückungsgeld auszubezahlen – nicht aber der Staatsanwaltschaft, um das haftbedingt entfallene Einkommen von vier Monaten zu ersetzen. Laut Prognose sollte er von Juli 2004 bis Juni 2005 rund 170 Euro Umsatz am Tag machen. In einem Unterhaltskosten-Prozess in Rottenburg (auch im Dezember 2004) sagte Sahin jedoch, er habe einen Umsatz von 70 bis 150 Euro pro Tag gemacht – bei der Polizei hat er offenbar nur von 40 bis 50 Euro pro Tag gesprochen, wie die Rottweiler Staatsanwaltschaft den Akten entnommen hat. Summen, die aus Sicht der Staatsanwaltschaft eine Gewinn-Entschädigung in Höhe der steuerberaterlichen Gewinn-Prognose unmöglich machen. Dem Sachbearbeiter schien die Gewinn-Prognose schon zu hoch ausgefallen zu sein, bevor er von dem Unterhalts-Verfahren wusste.
Das ändert nichts an dem Umstand, dass Haydar Sahin durch die ungerechtfertigte Untersuchungs-Haft finanzielle Schäden entstanden sind. Die Mietkosten musste er weiterhin begleichen, ohne dass er Einnahmen erzielen konnte – entgangene Einnahmen, deren Höhe er aber möglicher Weise nicht hinreichend gegenüber dem Staat nachweisen kann. Wäre er im zweiten Jahr Kneiper gewesen, dann hätte er die Steuererklärung des Vorjahres als Beweismittel gehabt – als Existenzgründer hat Haydar Sahin das nicht. Aus staatlicher Sicht gilt offensichtlich die Regel: Wenn die Höhe des Schadens nicht nachweisbar ist, dann ist kein Schaden entstanden.
Selbst die Parkgebühr an seine Werkstatt, in der Sahins Auto zu Haft-Beginn war und es bis zum Haft-Ende blieb, wird er zahlen müssen. „Wer in Untersuchungshaft sitzt, ist schließlich nicht hinterm Mond“, argumentiert der Leitende Oberstaatsanwalt Dr. Albrecht Foth in Rottweil. Es gelten die Grundsätze des Zivilrechts. Der Geschädigte hätte den Schaden minimieren, das heißt das Auto aus der Werkstatt holen lassen müssen – aus der Haft heraus. Haydar Sahin bekam erst nach zwei Monaten im Gefängnis einen Pflichtverteidiger. Die Mittagspause der ganztägigen Gerichtsverhandlung habe er ohne Essen und strumpfig auf einem kalten Zellenboden verbringen müssen, erzählt er. Und seit seiner Haft leide er an Schlafstörungen und Angst-Zuständen. Und mangels Pass und Staplerführerschein gestaltet sich für Sahin die Job-Suche schwierig.
Begonnen hatte alles mit einer Schankerlaubnis, die Haydar Sahin für einen Horber Wirt auf seinen Namen geholt hatte, weil der Kollege angeblich aus finanziellen Gründen keine beantragen konnte. Sahin haftete folglich für eine zweite Kneipe. Als ihm dort unter anderem bulgarische Mädchen auffielen, wandte er sich Hilfe suchend an die Polizei und die verpflichtete ihn als Vertrauensperson. In polizeilichem Auftrag heuerte er eine Bulgarin als Kellnerin an, die mit Falschgeld zu tun haben sollte und mit einem falschen Pass eingereist war. Vermittelt wurde sie von jenem Wirt und seiner bulgarischen Lebensgefährtin, die Sahin der Geldfälschung beschuldigt haben, nachdem er ihnen die Schankerlaubnis entzogen hatte.
Den Ermittlern war dieser Umstand egal – für ihre Fehler muss der 46-jährige Österreicher türkischer Herkunft mit seiner Existenzgrundlage bezahlen. Von Gesetzes wegen ist das in Ordnung, wenn der haftbedingte Schaden nicht dokumentiert werden kann. Das sagt die Staatsanwaltschaft, die Haydar Sahin am 10. August 2004 fälschlicherweise verhaften ließ – wobei für die Entschädigungsfragen ein anderer Sachbearbeiter zuständig ist wie für die Verhaftung.
Haydar Sahins letzte Chance ist eine Klage gegen den Staat, was er sich ohne Prozesskostenhilfe nicht leisten kann. Ob der Staat wohl diesen Prozess gegen sich selbst finanziert?
Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik