Andreas Ellinger

JOURNALISMUS IN WORT UND BILD

Wenn geprügelte Kinder gewalttätig werden

Veröffentlicht in: Features, Justiz

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Was ist das für eine Gesellschaft, die Kinder ihren prügelnden Eltern überlässt, und sie einfach wegsperren lässt, wenn sie als Jugendliche oder Erwachsene selbst gewalttätig werden? Ein Jahr Gefängnis für einen Kopfstoß und eine Beschimpfung bekam gestern ein 27-Jähriger vor dem Horber Amtsgericht. Er war „massivst vorbestraft“, wie der Richter in seiner Urteils-Begründung betonte. Sieben Einträge gab es im Bundeszentralregister – darunter Jugendstrafen mit zwei Jahren und drei Monaten sowie fünf Jahren und vier Monaten– jeweils ohne Bewährung.

Der Lebenslauf des Angeklagten war aktenkundig: Von „tätlichen Übergriffen“ im Elternhaus und einem Alkoholiker als Vater war die Rede – 1989 wurde den Eltern das Sorgerecht entzogen. Die Kinder kamen ins Heim und in eine Pflegefamilie. Weil der damals Elfjährige mehrfach zu seinen Eltern ausgerissen ist, gaben die Heim-Erzieher auf. Ab 1992 war er wieder ganz seinen Eltern überlassen.

Vier Jahre später gab es erste Gerichts-Urteile. Mit Diebstahl fing es an, mit Körperverletzungen ging es weiter. Als Heranwachsender hat der Angeklagte grundlos – mit anderen zusammen – Leute zusammengeschlagen und -getreten. In einem Fall haben die Täter auf das Opfer gepinkelt. Zwei Vergewaltigungen kamen hinzu. Der Angeklagte gilt als Alkoholiker.

Anfang vergangenen Jahres kam der Mann, der zeitweise in Waldachtal wohnte, wieder frei – nach eigener Darstellung mit besten Vorsätzen. Nur: Die Drogenberatung habe keinen Platz gehabt, ein Psychologe habe ihn nach einem einstündigen Gespräch wieder weggeschickt, weil er alleine zurecht komme. Es blieb nur eine Anlaufstelle: die Eltern, die ihn früher verprügelt haben. Der Vater ist inzwischen trocken – ein strenges Regiment führt er zuhause offenbar weiter. Die jugendliche Tochter ist mehrfach abgehauen und musste von der Polizei gesucht werden.

In seinem „letzten Wort“ erklärte der Angeklagte unter Tränen: „Es tut mir leid. Ich kann mich nicht von heute auf morgen ändern, ich krieg das nicht hin ohne Hilfe.“ Darauf deutete auch der Umstand hin, dass er in einer anderen Sache in Untersuchungshaft sitzt.

Die „Chance“, die der Verteidiger für seinen Mandanten erbat – ein halbes Jahr auf Bewährung – gewährte das Gericht nicht. Der Richter glaubte einem 19-Jährigen, dem der Angeklagte am 16. Juni 2005 gegen 22.40 Uhr in Salzstetten die Nase gebrochen hat und ihn als „Kanacken“ beschimpft haben soll. Letzteres bestritt der Angeklagte. Zum Kopfstoß sei es gekommen, weil einer der jungen Leute seine Schwester als Hure und Fotze beschimpft habe. Solche Beleidigungen seien nicht gefallen, sagten der Geschädigte und drei seiner Freunde als Zeugen. Im Gegenteil: Der Angeklagte habe gepöbelt und grundlos zugestoßen. Der Täter sagte, er werde nicht grundlos gewalttätig – das sah das Gericht aber durch seine Vorstrafen als widerlegt an. Eine Entlastungszeugin, die Schwester des Mannes, verwickelte sich in Widersprüche.

Eine Notwehr-Handlung nahm das Gericht dem Angeklagten nicht ab. Während er behauptete, der Geschädigte habe bedrohlich in seine Jacken-Tasche gefasst, sagte der Angesprochene, er habe nicht einmal eine Jacke angehabt.

Der Richter verurteilte den Angeklagten zu einem Jahr Gefängnis. Die Staatsanwaltschaft hatte ein Jahr und zwei Monate gefordert. Die Rückfall-Gefahr schien hoch zu sein. Und seine Opfer können genauso wenig für die schlimme Kindheit des Angeklagten wie er selbst.

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik

Donnerstag

23

März 2006

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
Horb