Andreas Ellinger

RESEARCH, ANALYSES AND REPORTING

Lyrik vom Lande

Veröffentlicht in: Berichte, Kultur

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Der Dettinger Dichter Walle Sayer liest in der Sulzer Stadtbücherei

 

Stille erfüllt die Sulzer Stadtbücherei. Nur das Blitzen der Pressefotografen unterbricht Walle Sayer. Der Dettinger Lyriker ist an diesem Abend – dem Mittwoch dieser Woche – der Einladung von Büchereileiterin Ruth Trick gefolgt. Er liest aus seinem Kurzprosa-Band „Kohlrabenweißes“ und einem noch nicht veröffentlichten Gedichtband.

Sulz. „Lichtrechnung“ heißt der Arbeitstitel dieses Buches, das der freie Autor im nächsten Jahr veröffentlichen möchte. Seine Lesung betrachtete er daher auch als „Hörprobe“ für sich selbst.

Walle Sayers Gedichte sind eine Art Gegenwelt, eine Rückzugsmöglichkeit aus dem Alltag. Dabei ist es gerade der Alltag, den Walle Sayer beschreibt. Zum Beispiel mit den Fußballgedichten von den „Wiesenkickern“. Alt-Internationaler Helmut Rahn macht in Sayers Lyrik noch einmal „den Lupfer über den eigenen Schatten“, bloße Äste dienen als Torpfosten. Oder der „Wolfsblick“ des letzten schwäbischen Wolfes im Stuttgarter Naturkundemuseum. Ausgestopft steht dort das Tier hinter Glas, „immer erwartend den hallenden Schuß“.

Lyrik fürs Volk, könnte man diese Werke des gebürtigen Bierlingers betiteln. Zwar enden die Gedichtzeilen unvermittelt nach kurzen Satzfetzen. Aber Walle Sayer reimt eben nicht am Ende der Sätze, sondern mittendrin. Dabei ist der Satzbau nur unwesentlich von der dichterischen Freiheit verfremdet. Der Autor verdichtet, beschreibt einen kurzen Ausschnitt und konzentriert sich dabei aufs Wesentliche. Sein Zuhörer muß nicht Lyrikexperte sein, um ihn zu verstehen. Denn die Inhalte entlehnt er aus der Gegenwart eines jeden – aus seiner eigenen Gegenwart. Und die spielt unweit von Sulz auf dem Land.

Ähnlich verhält es sich mit der Kurzprosa von Walle Sayer. Er liefert darin sehr detaillierte „Menschenbilder, Ortsbestimmungen“, wie schon der Untertitel von „Kohlrabenweißes“ verrät. Zum Beispiel aus der Kneipe. Er schildert das gasthäusliche Treiben aus der Perspektive eines Kellners, der zugleich Lyriker ist. Im Wanderpokal auf dem Wandbord sieht er einen Staubfänger. Der Mantel hängt nicht am Kleiderhaken, er hat sich er-hängt. Am Stammtisch sitzt die Rentnerrunde und „schlotzt Verschnittweine“. Dazwischen sehr ernste und nachdenkliche Zeilen über den trockenen Alkoholiker. „Sturzbesonnen“ grenzt er sich nach und nach von seinen früheren Saufkumpane ab. „Nicht einmal eine Schnapsidee hat er mehr.“

Ausdrucksstarke Worte wie „Spazierstockgefechte“ oder das „Sternmelken“ leuchten wie kräftige Farben in diesen Kurzprosastücken. Walle Sayer spielt mit der Sprache. Er schreibt über „vormorgen und übergestern“ sowie über die Tür, die „sperrangelweit verschlossen“ ist. Seine Prosa klingt wie Gedichte ohne Reim.

Ein weiteres Thema – die Kindheitserinnerungen. So läßt Walle Sayer die Zeit wieder aufleben, als sich die Großmütter noch in den Kirchenboden schämten, als „wir“ aussahen „wie ein gerupfter Schmutzfink“ und als „uns“ der Blick in die weiblichen Brustspalten einen Wachstumsschub gab. Der Autor schreibt hier geradezu erotisch aus der Perspektive eines vorpubertierenden Jungen. „Die Meßlatten der Männlichkeit, so hoch wie ein Stiefelschaft.“ Gleichzeitig schien die Pfütze auf dem Schulhof so groß wie der Ozean auf der Landkarte. Bis die Kindheit schließlich ausklingt. Symbolisch fällt der Ast, an dem einst die Kinderschaukel hing, der Säge zum Opfer. „Ich sehe was, was Du nicht siehst – und das ist kohlrabenweiß.“

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Sulzer Chronik

Freitag

23

Oktober 1998

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
Sulz