Ein Mensch war illegal
Veröffentlicht in: Reportagen, Soziales
Der Obdachlose Miro aus Bosnien sitzt in Abschiebe-Haft – dem Schachspieler droht das Matt
Miro hat illegal in Stuttgart gelebt – ohne Sozialhilfe und Krankenversicherung. Der serbische Bosnier war obdachlos. Auf die Frage, ob er Angst vor seiner Zukunft habe, antwortete er: „Ich habe keine Zukunft. Wovor soll ich Angst haben?“ Seit rund einem Monat sitzt er in Abschiebe-Haft.
Stuttgart. Miro schiebt seine Dame ein Feld vorwärts und bietet „Schach“. Höchstens zehn Züge trennen ihn vom Sieg. Sein Partner gibt sich geschlagen. Auf dem Schachbrett beherrscht Miro spielend, was er im Leben nicht kann – mehrere Züge voraus zu planen. „Ich kann nur von heute bis morgen leben“, sagte er, bevor ihn die Polizei aufgegriffen und ins Rottenburger Abschiebe-Gefängnis gebracht hat. Der bosnische Serbe konnte keine Aufenthaltserlaubnis in Deutschland vorweisen. Als der Krieg in Bosnien zu Ende war, gehörte Miro zu den Verlierern. Mit seinem Status als Kriegsflüchtling hat er seine Arbeitserlaubnis verloren und seine Wohnung, weil er die Miete nicht mehr bezahlen konnte. Mehr als fünf Jahre lang war er obdachlos.
Im Gegensatz zu anderen Obdachlosen hat Miro nicht einmal Sozialhilfe bekommen. Ob er auf den deutschen Staat wütend ist? „Nein, um Gottes Willen“, entfährt es dem überzeugten Atheisten. „Ich empfinde sogar Dankbarkeit. Kein anderer Staat hat mehr für bosnische Flüchtlinge getan als Deutschland.“ Das sagte er, bevor er in Abschiebe-Haft kam.
Niemand sah Miro an, dass er obdachlos ist. Er trug einen gepflegten Vollbart. Seine Hände wirkten zart. Die Haut war nicht vom Wetter gezeichnet. Miro hat Shakespeare und Thomas Mann gelesen. Ein Wissenschafts-Magazin ist seine Lieblingslektüre. Naturwissenschaft, Geschichte, Kunst, Soziologie – alles interessiert ihn. „Ich lese nicht nur, um Informationen zu sammeln“, sagt er, „sondern ich habe die Gewohnheit entwickelt, die Informationen zu bearbeiten.“ Er zitiert einen Professor an der Universität von Sarajewo: „Ihr seid nur hier, um zu lernen, wie man denkt.“
Der studierte Theatrologe Miro fällt aus der Rolle – als Flüchtling, als Obdachloser und als Vater. Als er 1985 nach Deutschland ging, musste er Frau und Kind zurücklassen. „Wenn Du gehst, dann ist Schluss mit uns“, habe ihm seine Frau gesagt – und es war Schluss. Am Theater in Jugoslawien sah er, der Literatur und Bibliotheken-Wesen studiert hat, keine beruflichen Aufstiegs-Chancen. Ihm seien Kommunisten vorgezogen worden, sagt Miro.
Den Kommunisten beitreten, wollte er nicht. Was er an der Universität in Sarajewo über Marxismus lernen musste, „hatte mit der Wirklichkeit wenig zu tun.“ Kritiker der Kommunisten sah er ins Gefängnis gehen. „Ich hätte meine Überzeugungen verkaufen müssen, dann hätte ich vielleicht wie andere Karriere machen können“, sagt Miro. Stattdessen klebte er Plakate.
„Wozu habe ich studiert“, fragte er sich damals. Er flüchtete von der einen Perspektivlosigkeit in eine andere nach Deutschland und meldete sich später als Kriegsflüchtling. Bis vor einem Monat verdiente er sich als Obdachlosen-Friseur fünf Euro pro Haarschnitt. „Mit fünf Euro täglich komme ich gut durch“, erzählte er und war froh, dass eine befreundete Sozialhilfe-Empfängerin für ihn kocht. „Wenn ich gearbeitet habe und ein bisschen Geld habe, zeige ich mich erkenntlich.“
Vor gut einem Jahr hat er einen Oberarm verletzt. Keine Aufenthaltserlaubnis, keine Krankenversicherung, keine ärztliche Behandlung: Bei einer Gartenbau-Firma, die ihn „schwarz beschäftigt“ hatte, konnte er wegen des Arms nicht mehr anheuern. Er war auf leichte Arbeiten beschränkt. „Jede Arbeit hilft mir“, sagte Miro. „Ein Dieb bin ich nicht.“
Fünf Jahre lang hatte Miro eine „Platte“, wie Obdachlose ihren Schlafplatz nennen. „Das war eine verlassene Friedhofs-Toilette.“ Miro hatte sie mit Schrank, Tisch und Sessel eingerichtet – und einem „richtigen Bett“. Der Friedhofs-Verwalter habe ihn geduldet – bis ein Vorgesetzter ihn gesehen habe. Im vergangenen Sommer musste Miro in Parks schlafen – mit seinem Klapp-Bett, seinen zwei Schlafsäcken und einer Plastikfolie. Vor der Kälte des jüngsten Winters rettete ihn ein Zufall. Ein Bekannter musste für ein paar Monate ins Gefängnis. In seinem Zimmer konnte Miro schlafen.
Das Zimmer war in einem Abbruchhaus, wo niemand mehr wohnen sollte. Irgendjemand muss Licht gesehen und die Polizei gerufen haben, vermutet eine Sozialarbeiterin, die Miro kennt. Die Polizei kam und verhaftete ihn. Damit hatte Miro nicht gerechnet. Mit seinem jugoslawischen Ausweis war er in den vergangenen Jahren durch mehrere Personen-Kontrollen gekommen. Er versuchte, sich mit seiner Situation als Illegaler abzufinden.
Ob Miro hoffte, dass sich seine Situation irgendwann verbessert? Auf diese Frage antwortete der 51-Jährige: „Als Kind habe ich Märchen gelesen ‑ ich glaube an so etwas nicht.“ Miro bezeichnet sich als Fatalisten. „Egal, was du willst, die Umgebung steuert dich stärker als du dich selbst. Und wenn du an so etwas glaubst – vielleicht leistest Du weniger Widerstand.“
Bekannte haben ihm geraten, er solle eine Deutsche heiraten – als er noch jünger war. „Und diese Idee habe ich als eine Möglichkeit akzeptiert“, sagt er – eine Zeit lang. „Aber ich hätte eine Frau ausgenutzt, damit ich meine Existenz sichern kann und dann hätte ich wahrscheinlich meine Selbstachtung verloren. Das ist vielleicht das Einzige, was mir geblieben ist.“
Miro schätzt Freiheit mehr als vieles andere. Ob er dafür auf Wohlstand verzichtet? Er lacht. „Das ist jetzt banal, wenn ich sage, normaler Weise möchte ich gerne alles haben, was die meisten möchten. Ich bin kein Asket.“ Unzufriedenheit versucht er zu verdrängen. „Das wäre ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann“, sagt er. Das Einzige, was ihm leid tut, ist, dass er seine Tochter verlassen hat. „Ich schäme mich, weil ich ihr nicht viel helfen konnte.“ Über den Krieg hat er den Kontakt zu ihr verloren. Er weiß nur, dass sie lebt.
Miro hat seine Lage als Illegaler mit einem Sprichwort umschrieben: „Ein Überlebenskünstler ist, wenn er nicht unglücklich ist, glücklich.“ Wo er sich einordnete? „Puh“, sagte Miro und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Nach einer Pause antwortete er: „Manche fragen mich, wie es mir geht. Ab und zu sage ich: Viel besser, als ich es verdient habe. Ich habe vielleicht zu wenig für meine Existenz getan. Manche könnten sagen, dass ich mein Leben verzockt habe.“
Miro denkt nicht so. „Mein Leben war in gewisser Weise erfüllt – dank Büchern. Ich habe ein inneres Leben. Ich kann manchmal stundenlang träumen“, erzählt er. „Das sind nicht so Fantasie-Träume, wie es wäre, wenn es wäre. Ohne falsche Bescheidenheit: Ich kann sagen, dass ich in gewisser Weise ein Philosoph bin.“ Ein Philosoph, der seine Gedanken mit niemandem teilen kann – wie ein Schachspieler. Miro ist ein Schachspieler, dem im Leben ständig das Matt droht. Im Juni wird er voraussichtlich abgeschoben. Er weiß nicht, wohin er dann ziehen soll – in einem Spiel, nach dem es für Miro kein Revanche gibt.
Andreas Ellinger
Eine etwas kürzere Fassung dieser Reportage erschien in der Südwest Presse, auf der Seite „Im Brennpunkt“.