Andreas Ellinger

JOURNALISMUS IN WORT UND BILD

Ein türkischer Schwabe, der Deutscher wurde

Veröffentlicht in: Interviews, Migration

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PDFOriginalartikel aus der Südwest Presse Horb als PDF


Hasan Suhta: „Ich könnte jetzt Kanzler werden, aber trotzdem sehen mich viele als Ausländer an“

 

Nordstetten. „Von nichts kommt nichts“, sagt ein 41-jähriger Leuco-Konstrukteur aus Nordstetten und erklärt, wie er es gepackt hat, vier Wohnungen zu kaufen und zu renovieren: „Schaffa, schaffa, schaffa…“ Wie jeder Schwabe ist er Deutscher. Trotzdem sehen viele in ihm einen Ausländer – ohne dass sie seinen Namen gehört hätten, der seine türkische Herkunft erahnen lässt: Hasan Suhta. Seit 25 Jahren lebt und arbeitet er in Deutschland. Ein Gespräch über Erfahrungen, Einsichten, Ideen und die Integration.

 

Südwest Presse: Herr Suhta, Sie sind vor 25 Jahren nach Deutschland gekommen. Damals waren Sie 17 Jahre alt. Mit welchen Erwartungen sind Sie eingewandert?

Hasan Suhta: Ich dachte: In Deutschland drückst zu einen Knopf, dann hast du Arbeit. Es klang wie ein Traum. Als ich in Nagold ankam, bin ich aber erst einmal in der Luft gehängt. Drei Monate lang musste ich warten, bis ich einen Sprachkurs machen konnte. Ich bin zu meinem Vater in ein Wohnheim für Bauarbeiter gezogen. Drei bis vier Leute haben in einem Zimmer geschlafen: Jahre lang. Zehn Männer haben sich ein Bad und ein WC geteilt – Leute, die sich vorher nicht gekannt haben. Ich war dort tagsüber alleine, weil alle arbeiten waren. Ich bin zwischen Wohnheim, Park und Bahnhof hin- und hergelaufen. Im Juni bin ich angekommen – erst im September fing das Leben mit der Schule wieder richtig an. In meinen ersten zwei bis drei Jahren in Deutschland habe ich gemerkt: Ohne Schweiß kein Preis. Von nichts kommt nichts.

Südwest Presse: Warum sind Sie überhaupt nach Deutschland gekommen?

Ich war in der neunten Klasse, als es in der Türkei einen Militärputsch gab. Es war die Zeit des Kalten Krieges. Die Russen wollten ans Mittelmeer. Deshalb gab es meiner Meinung nach den Putsch. Das war wie ein Bürgerkrieg. Jeden Tag wurden zehn bis 20 Leute auf den Straßen erschossen. Es war schwierig, zur Schule zu gehen. Auf jedem Schulhof stand Polizei und Militär. Die Schule blieb oft geschlossen. Da war es eine Möglichkeit für mich, zu meinem Vater zu kommen. Er war seit 1968 in Deutschland. Er ist durch Werbung hierher gekommen. In Anatolien waren damals Plakate aufgehängt. Ich bin ihm als einziges seiner sieben Kinder nach Deutschland gefolgt. Freiwillig wandert keiner aus. Die Menschen zieht es aber dorthin, wo der Wohlstand ist.

Südwest Presse: Zunächst einmal haben Sie in dem Wohnheim und ohne Arbeit aber nichts von diesem Wohlstand gemerkt. Wie sind sie mit der unerwarteten Situation umgegangen?

Hasan Suhta: Nach dem Sprachkurs habe ich so eine Art Berufsvorbereitungsjahr gemacht. Im Sommer 1983 konnte ich dann bei derselben Firma wie mein Vater anfangen. Freitags war die Schule aus, ab Montag war ich auf der Baustelle. Nach dem ersten Jahr auf der Baustelle habe ich mir jedoch Gedanken gemacht. Ich hatte nach der neunten Klasse die Schule unterbrochen – sollte ich nun lebenslang auf der Baustelle arbeiten? In der Kälte im Winter, in der Hitze im Sommer – und immer dreckig…

Südwest Presse: Wie sind Sie da rausgekommen?

Hasan Suhta: Ich ging deshalb zum Arbeitsamt Nagold. Mich interessierte der Metallbereich. Ich wollte auf dem kürzesten Weg in einen Metallberuf und habe in der Horber Berufsschule den Schweißer-Lehrgang gemacht. Ich habe also den ganzen Tag auf der Baustelle gearbeitet. Um dorthin zu kommen, musste ich zwei Stunden vor Arbeitsbeginn aufstehen. Dann habe ich acht Stunden gearbeitet und um 18 Uhr musste ich in Horb sein. Da habe ich gelernt, dass man in Deutschland Trampen kann. Gegen 21 Uhr war ich dann wieder im Wohnheim.

Südwest Presse: Heute sind Sie Konstrukteur bei der Horber Firma Leuco. Wie haben sie das gepackt?

Hasan Suhta: Das ist bei mir schon in die schwäbische Richtung gegangen: Schaffa, schaffa,… Als ich den Schweiß-Kurs gemacht habe, kam einer in Anzug und Krawatte vorbei. Das war ein Ingenieur von Leuco. Ich habe ihn gefragt, ob ich in seiner Firma anfangen könnte. Am nächsten Tag brachte er mir einen Bewerbungsbogen mit. Ich habe ihn ausgefüllt – und bekam eine Einladung. Am 18. Juli 1986 habe ich bei Leuco angefangen…

Südwest Presse: …aber doch sicher nicht gleich als Konstrukteur, oder?

Hasan Suhta: Nein, natürlich nicht. Es war so: Nachdem ich sechs Monate gearbeitet habe, sind die ersten CNC-Maschinen angeschafft worden. Als Angelernter mit gebrochenem Deutsch wollte ich irgendwie die CNC-Technik lernen. Ich habe mich bei der Abend-Realschule angemeldet, um mein Deutsch zu verbessern. Wenn andere junge Leute in der Disco waren, musste ich lernen. Nach drei bis vier Monaten habe ich angefangen, Klassenarbeiten zu schreiben. Mein Deutsch-Lehrer hat mir empfohlen Zusatzunterricht in Deutsch und Englisch zu nehmen. Dann habe ich jeden Abend Deutsch-Unterricht gehabt. Ich habe mit dem Stoff der dritten und vierten Klasse begonnen. Dank dieser Hilfe habe ich den Realschul-Abschluss bekommen. Dann habe ich mich zum CNC-Kurs angemeldet. Das habe ich nebenher zum Drei-Schicht-Betrieb gemacht.

Südwest Presse: Aber einen Beruf hatten Sie ja immer noch nicht gelernt…

Hasan Suhta: Ja, ich habe deshalb bei Leuco meine Vorgesetzten gefragt: Wie sieht‘s aus, kann ich bei Leuco einen Beruf lernen? Ich habe zwischenzeitlich eine Frau und zwei Kinder gehabt. Und es klappte: 1989 habe ich Werkzeugmacher der Fachrichtung Formentechnik gelernt. Ich habe die Ausbildung frühzeitig abgeschlossen: nach zwei statt dreieinhalb Jahren. Dann habe ich mich in Nagold in der Meisterschule angemeldet. Langsam hat sich auch meine Stellung in der Firma verbessert. Seit 2002 arbeite ich im Konstruktionsbüro. Egal, wo man ist: Wenn man will, dann kann man es schaffen. Ich habe sogar noch angefangen den Technischen Betriebswirt zu machen – das ist das Einzige, was ich nicht zu Ende gemacht habe.

Südwest Presse: Hatten Sie teilweise mit Vorurteilen gegen Türken zu kämpfen?

Hasan Suhta: Ja. Wenn mir beispielsweise einer sagte, „ich habe nichts gegen Türken, nur gegen Italiener“, dann wusste ich, dass er es sich nur nicht traut, mir ins Gesicht zu sagen, dass er auch etwas gegen Türken hat. Erst, wenn einen die Leute kennen, ist die Nationalität kein Problem mehr. Nach vielen Jahren der Zusammenarbeit heißt es dann: Du bist kein durchschnittlicher Ausländer, du bist ein anderer Ausländer, du bist in Ordnung. Aber was soll bitte ein durchschnittlicher Ausländer sein und was ein anderer Ausländer? Die Nationalität ist manchmal wie eine Krankheit. Es ist doch einfach so: Man kann nicht mit jedem Menschen auskommen. Aber ob man mit jemandem auskommt oder nicht, da spielt doch die Nationalität keine Rolle…

Südwest Presse: …in der Theorie nicht, aber in der Praxis oft schon…

Hasan Suhta: …ja, das liegt an dieser Mein-Garten-mein-Zaun-Theorie. Das fängt bei der Wohnungssuche an. Deutsche wollen deutsche Nachbarn. Türken wollen türkische Nachbarn. Dabei muss man jeden zum Schnee- Schippen erziehen, wenn er es nicht tut – egal, ob er Türke oder Deutscher ist. Aber die Vorurteile sind einfach in den Köpfen drin. Wenn ich eine Wohnung vermiete und es geht meine Frau ans Telefon, die gebrochen Deutsch spricht, dann besichtigen vier Leute die Wohnung. Wenn meine Tochter oder ich da sind, kommen zehn Leute. Aber meine Frau war es, die meine Tochter so erzogen hat, dass sie so anständig geworden ist. Vor zwei Monaten traute sich eine Mieterin nicht zu sagen, dass ihr Freund Afrikaner ist. Unter diesen Umständen bilden sich ganz schnell Viertel – Türken-Viertel, Russen-Viertel,… Und wer hat das gemacht? Wir zusammen.

Südwest Presse: Haben Sie eine Idee, wie sich dieser Teufelskreis durchbrechen ließe?

Hasan Suhta: Wir müssen uns kennenlernen, mehr Kontakte knüpfen und pflegen, um Vertrauen zueinander zu bekommen. Wir kennen uns gegenseitig nicht gut genug. Welcher Deutsche weiß schon, was an einem Ramadan-Abend oder bei einer türkischen Hochzeit abgeht? Und mein Vater ist in 40 Jahren nicht einmal in einer Kirche gewesen. Unter solchen Bedingungen entstehen Vorurteile. So kommt es, dass manche Deutschen gegen Moscheen sind. Natürlich werden in manchen Moscheen teilweise Dinge gesagt, die nicht gesagt werden dürften, die auch ich schlimm finde. Bei uns gibt es halt auch Links- und Rechtsextremisten. Und wenn ich in der Zeitung lese „Heute wieder Kaplan festgenommen“, dann stinkt mir das – weil die Vorurteile richtig zu sein scheinen. Ich kann aber doch auch nicht alle Deutschen verurteilen, wenn einer ein Kind umgebracht und es in einen Mülleimer geworfen hat.

Südwest Presse: Sie sind ja inzwischen selbst Deutscher geworden. Warum?

Hasan Suhta: Ich wollte Deutscher werden, weil ich hier lebe, Mitverantwortung übernehme und beispielsweise auch wählen können möchte. Denn es ist ja so: Ein Türke, der 50 Jahre lang in Deutschland lebt, darf nicht wählen. Aber ein Spätaussiedler, der aus Kasachstan kommt, darf ab dem ersten Tag in Deutschland wählen.

Südwest Presse: Hat sich durch ihre neue Staatsbürgerschaft im Umgang mit anderen Deutschen etwas geändert?

Hasan Suhta: Nein. Ich könnte jetzt zwar in Deutschland Kanzler werden, aber trotzdem sehen mich viele als Ausländer an – zum Beispiel bei Veranstaltungen. Mich fragt keiner, ob ich Deutscher bin oder nicht.

Südwest Presse: Fühlen Sie sich diskriminiert?

Hasan Suhta: Nein, mir ist es nicht so wichtig, wie andere mich sehen. Und meine Familie hat im Moment keine Probleme – wobei es natürlich immer Freunde und Feinde gibt – egal, was man macht. Man selber macht freilich auch Fehler, auch wenn man immer versucht, sein Bestes zu tun. Und in manchen Dingen bleibt man einfach verschieden. Ich kann nicht verbergen, woher ich komme, in welcher Gesellschaft ich groß geworden bin. Türken essen normalerweise kein Schweinefleisch und sie trinken keinen Alkohol. Man kann nicht alles ändern. Wichtig ist, dass man eine andere Gesellschaft akzeptieren kann. Und da ist es problematisch, wenn das Ich- oder Wir- Gefühl zu stark ausgeprägt ist. Türkische Eltern werden kritisiert, wenn sie ihren Töchtern keine Ehe mit einem Deutschen erlauben. Wenn aber ein deutsches Mädchen einen türkischen Jungen liebt, dann akzeptieren das deutsche Eltern oft auch nicht sofort. Das ist diese Mein-Garten-mein-Zaun-Theorie.

Südwest Presse: Die Integration bleibt also eine wichtige Aufgabe…

Hasan Suhta: …auf jeden Fall! Und Integration kommt nicht von selbst. Man kann sie steuern – in der Politik und in den Medien zum Beispiel. Der Staat muss einen Plan haben, in welche Richtung er gehen will. Klar ist aus meiner Sicht: In einem Land, in dem 60 bis 70 Prozent vom Export abhängt, kann man nicht gegen Ausländer sein. Denn Hass brennt wie ein Vulkan und irgendwann explodiert das. Und investiert wird nur dort, wo man sich etwas erwartet. Umgekehrt gilt: Wer wo einwandert, muss dort die Regeln einhalten.

Südwest Presse: Sie kommen mit diesen Regeln gut zurecht, wie Ihr Lebensweg beweist. Gibt es trotzdem Momente, in denen Sie sich wünschen, wieder in die Türkei zu ziehen?

Hasan Suhta: Ja. Mein Ziel ist es, irgendwann in meine Heimat zurückzukehren. Dort leben meine sechs Geschwister, meine Tanten und Onkel. Und mein Traum wäre es, als Vertreter meiner Firma – also von Leuco – in die Türkei gehen zu können. Wenn das nicht klappt, ist es aber auch nicht schlimm. Ich plane eine Nussbaum-Plantage. Und wenn ich in Rente gehe, kann ich unter den Bäumen Wasserpfeife rauchen und das Leben vollends genießen.

Südwest Presse: Glauben Sie, dass viele Landsleute von Ihnen den Traum haben, irgendwann wieder heimzukehren?

Hasan Suhta: Wenn in der Türkei das soziale Niveau ähnlich hoch wäre wie in Deutschland, würden bestimmt 70 bis 80 Prozent zurückgehen. Mein Vater hat das übrigens auch so gemacht, als er in Rente ging. Er kommt jetzt aber wieder oft her, weil er in der Türkei tagelang Schlange stehen müsste, um in ein Krankenhaus zu kommen. In Deutschland gibt es selbst in einem kleinen Dorf wie Nordstetten einen Arzt, nach zwei Kilometern gibt‘s eine Apotheke. In der Türkei müsste er erst mal in eine Großstadt wie Istanbul, Ankara oder Ismir fahren. Und für eine Augenoperation bekommt man beispielsweise erst nach zwei Monaten einen Termin. Deswegen kommt er immer wieder für zwei Monate nach Deutschland, obwohl er das gar nicht unbedingt will. Die Gegebenheiten sind eben so. Aber das kann sich bis in einigen Jahren ändern.

Südwest Presse: Wie meinen Sie das?

Hasan Suhta: Wanderungen hat es immer gegeben – aufgrund der Wirtschaftslage oder weil Krieg herrschte. Vor 60 Jahren war hier Krieg. Heute denkt kein Jugendlicher mehr daran, dass Franzosen mit Deutschen Krieg führen könnten. Vor einem halben Jahrhundert war das noch anders. Und in wirtschaftlicher Hinsicht, glaube ich, dass Deutschland 1990 bis 1995 sein höchstes Niveau erreicht hat. Seither geht es bergab. Dadurch müssen sich auch Deutsche überlegen, ob sie in ein anderes Land zum Arbeiten gehen. Die Zeit könnte kommen, wenn die Arbeitslosenquote weiter steigt. Deutsche werden sich also überlegen müssen: „Wie wär‘s wenn ich mit meiner ganzen Familie nach China oder nach Indien zur Arbeit gehe? Und wer sich solche Gedanken macht, der versteht vielleicht besser, warum Türken und Italiener nach Deutschland gekommen sind, welche Schwierigkeiten sie hatten und wie sie sich hier gefühlt haben.

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik

Donnerstag

13

April 2006

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
Horb