Andreas Ellinger

RESEARCH, ANALYSES AND REPORTING

Demokratie bis zum Werkstor

Veröffentlicht in: Arbeitswelt, Kommentare

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Bei der „Organizing“-Strategie der IG Metall geht es um weit mehr, als Betriebsräte bei Filter-Volz und Konsorten einzurichten sowie die Gewerkschaft mit neuen Mitgliedern zu stärken.

Betriebsräte sind kein Selbstzweck. Mit den Interessenvertretungen können Arbeitnehmer ihre Mitbestimmungsrechte nutzen. Und da der Arbeitsalltag die Menschen prägt, beeinflussen die Unternehmensstrukturen maßgeblich die Gesellschaft. Je demokratischer die Firmen organisiert sind, desto besser für die Bundesrepublik. Es geht folglich alle etwas an, was bei

Volz, Riese und anderen passiert.

„Die Demokratie hört meist am Werkstor auf“, sagt der Kölner Universitäts-Professor Dr. Christoph Butterwegge. „Wer Kritik übt, gilt als Querulant und wird aussortiert – spätestens bei der nächsten Entlassungsrunde.“ Und wer entlassen werde, sei schnell bei „Hartz IV“ angelangt: Ohne ein materielles Auskommen sei aber keine politische Beteiligung möglich. Der Politikwissenschaftler folgert, dass die Demokratie unter dem Abbau von sozialer Sicherheit gelitten hat.

Eingesetzt habe dieser Trend bereits Ende der 1970er-Jahre, sagt Christoph Butterwegge. Seither habe es keine Vollbeschäftigung mehr gegeben. Die Angst vor „Hartz IV“ habe die Situation verschärft: „Das hat zu Duckmäusertum in den Betrieben geführt.“

Auch der stellvertretende Bundesvorsitzende der IG Metall, Detlef Wetzel, beklagt „einen nachhaltigen Demokratieverlust“. Wer es als Arbeitnehmer gewohnt ist, aus Angst vor einem Job-Verlust die Missstände im Betrieb hinzunehmen, der neigt als Bürger dazu, auch die Missstände in Staat und Gesellschaft widerstandslos hinzunehmen.

Sogar die Gewerkschaften seien „nicht mehr so kritisch und nicht mehr so laut“, wie Professor Christoph Butterwegge aufgefallen ist: „Der Protest wird mehr

kanalisiert als artikuliert.“

Bei der Organizing-Strategie, wie sie Detlef Wetzel seit eineinhalb Jahren in der IG Metall vorantreibt, verhält sich das anders. Sie basiert darauf, Konflikte in Unternehmen zu erkennen, sie mit den betroffenen Arbeitnehmern gemeinsam zu thematisieren und sie gegebenenfalls öffentlich auszutragen – um die zugrunde liegenden Missstände zu beseitigen. Für Wetzel ist es „ein ganz wichtiger Punkt, dass die Menschen erkennen: Die eigenen Interessen kann man nur selbst erfolgreich vertreten – und selten alleine, meistens braucht man viele.“

Wenn sich diese Erkenntnis in den Belegschaften durchsetzt, kann das Organizing – über die Firmen hinaus – in die Gesellschaft hineinwirken, wie Christoph Butterwegge erklärt: „Wenn solidarische Verhaltensweisen erfolgreich sind, dann ermutigt das die Menschen, sich politisch zu beteiligen.“

Das hält Detlef Wetzel für dringend erforderlich: „Es wird keine

Politik mehr für die Mehrheit der Menschen gemacht.“ Für den Gewerkschafter ist nicht das Wirtschaftssystem der Maßstab dafür, was richtig oder falsch ist, sondern der Mensch – und diese Haltung fordert er auch von der Bundesregierung ein: „Die Politiker müssen sich beispielsweise entscheiden, ob sie Politik für eine Million Leiharbeiter machen oder für 5000 Profiteure, die Milliarden verdienen.“

Eine Umfrage der IG Metall im Jahr 2009 hat ergeben: „Rund drei Viertel der Bürger haben das Gefühl, dass nicht Politik für sie, sondern gegen sie gemacht wird.“ Viele haben von Politikern den Eindruck: „Die machen sowieso, was sie wollen.“ Wetzel warnt: „Dadurch kann ein Vakuum entstehen, das für unsere Demokratie gefährlich ist. Wir als Gewerkschaften müssen dieser Entwicklung entgegenwirken und Druck auf die politisch Verantwortlichen machen…“ – ab diesem Herbst verstärkt: unter dem Motto „Kurswechsel für ein gutes Leben“. Der IG Metaller sagt: „Entscheidend ist, ob wir in diesem System – in der Demokratie, in der Sozialen Marktwirtschaft – in der Lage sind, diese Gesellschaft wieder zusammenzuführen, oder ob sie weiter auseinanderdriftet wie in den vergangenen 10, 20 Jahren.“

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik

 

Siehe auch:

Interview mit Detlef Wetzel (26.08.2010)

Bericht: „Gemeinsam für ein gutes Leben“ (04.09.2010)

 

Samstag

4

September 2010

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
Horb