Andreas Ellinger

JOURNALISMUS IN WORT UND BILD

Die Heilige Nacht ist eine heiße Nacht

Veröffentlicht in: Arbeitswelt, Reportagen

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Wenn jemand unterm Weihnachtsbaum zur Waffe greift, muss Siegfried König vom LKA aus helfen

 

„Weihnachten ist für die Polizei keine heilige, sondern eine heiße Nacht“, sagt Siegfried König aus Bergfelden. Das weiß er nach 33 Jahren Polizeiarbeit aus Erfahrung. Auch heute Nacht wird er nicht wie andere im Kreise der Familie gemütlich feiern, sondern als „Kommissar vom Dienst“ im Führungs- und Lagezentrum des Stuttgarter Landeskriminalamtes (LKA) sitzen.

„König, FLZ!“ Wenn ein PolizeiBeamter bei Siegfried König im Stuttgarter Landeskriminalamt anruft, braucht er in der Regel Hilfe. Manches Mal reicht dann ein Blick zum Computer. Doch wenn er einmal selbst nicht helfen kann, weiß der Bergfelder Kriminalhauptkommissar garantiert jemanden, der es kann. Bild: A. Ellinger

„König, FLZ!“ Wenn ein PolizeiBeamter bei Siegfried König im Stuttgarter Landeskriminalamt anruft, braucht er in der Regel Hilfe. Manches Mal reicht dann ein Blick zum Computer. Doch wenn er einmal selbst nicht helfen kann, weiß der Bergfelder Kriminalhauptkommissar garantiert jemanden, der es kann.
Bild: A. Ellinger

Bergfelden/Stuttgart. Aus polizeilicher Sicht ist das Idyll vom friedlichen Familienfest unterm Weihnachtsbaum eine Fiktion. Denn selten sind die Zellen in vielen Revieren derart voll, wie an Heilig Abend. Das weiß Siegfried König aus seiner Zeit bei der Schutzpolizei noch allzu gut. Danach hat er zur Kriminalpolizei gewechselt und dort alle Bereiche durchlaufen. Zuletzt hat er im Rauschgift-Dezernat gearbeitet und auf diesem Wege kam er auch zum Landeskriminalamt nach Stuttgart. Hier arbeitet er mittlerweile seit fast 21 Jahren und ist über das Rauschgift- und Falschgeld-Dezernat schließlich ins Führungs- und Lagezentrum (FLZ) gekommen.

SEK-Einsatz am Christfest

In diesem Raum unter dem Dach des riesigen Gebäudekomplexes laufen nachts sämtliche Fäden der Polizeiarbeit in Baden-Württemberg zusammen — außer den Verkehrs-Sachen. Speziell in der Nacht vom 24. zum 25. Dezember sind das viele Familiendramen, von denen die Kollegen aus den Revieren per Mail oder per Fax berichten. Mancher Vater greift unterm Christbaum sogar zum Messer oder zu einer anderen Waffe. Die Kollegen vor Ort melden sich dann sofort bei dem Kriminalhauptkommissar aus Bergfelden und der schickt ihnen bei Bedarf ein Sonder-Einsatz-Kommando (SEK) vorbei. Siegfried König trocken: „Damit ist zu rechnen.“

In solchen Situationen ist er froh, dass er von den Fällen „nur“ in Papierform oder am Telefon erfährt und daher mit kühlem Kopf reagieren kann. Denn die psychische Belastung für die Schutzpolizisten sei oft groß. In einem etwas anders gelagerten Fall hat er das vor 28 Jahren gerade an Heilig Abend selbst erlebt. Damals musste er einen tödlichen Verkehrsunfall bearbeiten. Ein Mann war in seinem Auto vollständig verbrannt. Nur anhand der Nummertafel-Fragmente konnte Siegfried König seinen Namen herausfinden und musste hernach die Familie benachrichtigen. Seinerzeit passierte das noch ohne Begleitung eines Pfarrers. König: „Das Bild werde ich mein Leben lang nicht vergessen, wie die junge Frau dastand, ein Kleinkind auf dem Arm und zwei weitere kleine Kinder im Flur.“

Ein Durchhänger sitzt nicht drin

Die Distanz im Führungs- und Lagezentrum hat er also schätzen gelernt, obwohl dieser Dienst natürlich ganz besondere Anforderungen stellt. Aus ganz Baden-Württemberg, den benachbarten Bundesländern und aus dem benachbarten Ausland wenden sich die Polizeibeamten an ihn, wenn sie Hilfe brauchen. Er muss dann die Lage vor Ort einschätzen können und schnell die notwendigen Schritte einleiten. König sieht das FLZ daher als Dienstleistungszentrum. „Man muss sich halt auskennen“, sagt er. Und: „Man darf sich keinen Durchhänger leisten.“

Im Schichtbetrieb will das etwas heißen. Auf eine Schicht von 13 bis 20 Uhr folgt anderntags eine von 6 bis 13 Uhr und schließlich die zehnstündige Nachtschicht von 20 bis 6 Uhr. Zwei dieser Durchgänge macht er zusammen mit seinen drei Kollegen pro Woche, was unterm Strich 48 Stunden Arbeit ausmacht. Einen Tisch weiter sitzt dabei immer Uwe Schlatter als Polizeiführer vom Dienst — daneben Walter Richardon und Sandra Schwenk als Angestellte vom Dienst. Außer ihnen ist nachts nur der Pförtner im Haus.

Beim Landeskriminalamt arbeiten insgesamt vier solcher Schichten mit jeweils zwei Springern, wobei Siegfried König in den vergangenen Jahren an Heilig Abend meist die Nachtschicht erwischt hat. Dort, wo sonst die Yucca-Palme steht, haben sich seine Kollegen und er in diesem Jahr wenigstens einen Weihnachtsbaum aufgestellt. Ob allerdings Zeit zum Plätzchenessen bleibt, liegt ganz an der Kriminalität im „Ländle“.

Handgranate in Bergfelden

Vor knapp zehn Jahren hat beispielsweise ein Waffenschmuggler an der Schweizer Grenze Kollegen überfallen. Damals mussten zum einen Spezialkräfte runter und im LKA selbst tagte „der kleine Führungsstab“. Der tritt in der Regel zwei Zimmer weiter zu seinen Besprechungen zusammen. Dazwischen liegt noch die Koordinierungs-Stelle der Mobilen und der Sonder-Einsatz-Kommandos. König: „Wenn’s erforderlich ist, wird hier Tag und Nacht geschafft.“

Das letzte Mal war vor eineinhalb Wochen die Hölle los, als zwei Gefangene aus der Haftanstalt in Bruchsal ausgebrochen sind. Da stand das Telefon von Siegfried König nicht mehr still. „Da bist du zum Hirsch geworden“, erzählt er. In solchen Fällen muss er zusätzlich den Pressesprecher rufen und den zuständigen Minister benachrichtigen. Da bleibt nicht einmal mehr Zeit für eine Vesperpause.

Alles, was per E-Mail oder per Telefax im Führungs- und Lagezentrum des Landeskriminalamtes eingeht, müssen Siegfried König und seine Kollegen durchlesen, um gegebenenfalls reagieren zu können. Hier wirft er mit Stellvertreter Uwe Schlatter einen Blick in die „Bundesliga-Ergebnisse“ und schaut, wo es Randale gegeben hat. Bild: A. Ellinger

Alles, was per E-Mail oder per Telefax im Führungs- und Lagezentrum des Landeskriminalamtes eingeht, müssen Siegfried König und seine Kollegen durchlesen, um gegebenenfalls reagieren zu können. Hier wirft er mit Stellvertreter Uwe Schlatter einen Blick in die „Bundesliga-Ergebnisse“ und schaut, wo es Randale gegeben hat.
Bild: A. Ellinger

So kurz vor Silvester muss außerdem oft die Entschärfer-Bereitschaft ran, wenn irgendwo ein selbst gebastelter Feuerwerkskörper aus dem Ruder zu laufen droht. Diese Kollegen bestellte Ortschaftsrat König vor zwei Jahren übrigens auch aufs Bergfelder Rathaus, als dort eine Bürgerin eine Handgranate aus dem ersten Weltkrieg im Einkaufskorb vorbei brachte.

Die Zeit der vielen Banküberfälle dürfte mit dem heutigen Tag indes vorüber sein. Das sei ein typisches Phänomen der Vorweihnachtszeit, erzählt Königs Stellvertreter Uwe Schlatter. Alle Jahre wieder versucht sich auf diese Weise nämlich mancher das Weihnachtsgeld aufzubessern, um größere Geschenke kaufen zu können.

Neben diesen wenigen saisonalen Einflüssen, verläuft aber fast jeder Tag anders. „Das macht Spaß“, sagt der 50-jährige Bergfelder und fügt hinzu: „Man bleibt vom Kopf her beweglich.“ Die Kehrseite der Medaille ist allerdings, dass die „Tätigkeiten außerhalb des Berufes stark eingeschränkt“ sind. Und während in anderen Wohnzimmern heute im Laufe des Vormittags der Weihnachtsbaum steht, lehnt er bei Königs womöglich bis in den Nachmittag hinein auf dem Balkon. Zumindest ist es in den vergangenen Jahren schon so gewesen, dass ihn Siegfried König zwischen kurzem Schlaf und Weihnachtsgottesdienst aufgestellt hat. Ob es ihm heute freilich in die Kirche reicht, hängt von den Straßenverhältnissen ab.

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Sulzer Chronik

Freitag

24

Dezember 1999

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
Sulz