Andreas Ellinger

JOURNALISMUS IN WORT UND BILD

Der Flugzeug-Sprit gefror im Vergaser

Veröffentlicht in: Geschichte, Porträts

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PDFOriginalartikel aus der Südwest Presse Horb als PDF


Abgestürzt und überlebt: Die Geschichte von August Vogt, der heute 88 Jahre alt wird und zu den bestausgebildeten Luftwaffen-Piloten gehörte

 

Der Horber August Vogt hat als Wehrmachts-Pilot 2516 Flüge überlebt – darunter zwei Abstürze und sechs Notlandungen. Die Landkarte Europas kennt er so gut, wie andere den Straßenplan ihrer Heimatstadt. August Vogt gehörte zu den bestausgebildeten Flugzeugführern im Zweiten Weltkrieg, die auch Stunden lange Blind- und Schlechtwetter-Flüge an der Front bewältigen mussten. Er hat überlebt und feiert heute seinen 88. Geburtstag.

Horb. Vom 17. November 1942 kann August Vogt erzählen, als wäre es gestern gewesen. Um 5.38 Uhr hob er im kaukasischen Krasnodar ab, um nach Zaporozje zu fliegen. „Und um 5.42 Uhr lag ich schon auf der Schnauze“, erinnert er sich an das, was in seinem Flug-Buch minutengenau nachzuvollziehen ist. „In Sekundenschnelle sind alle drei Motoren ausgefallen.“ Das zehn Tonnen schwere Flugzeug, eine Junkers 52 (JU 52), schrammte zwischen Bäumen und Büschen hindurch, ehe es zum Stehen kam und – das kann August Vogt bis heute kaum fassen – „es ist nichts explodiert“. Fahrwerk und Propeller blieben unbeschädigt.

Mit 140 km/h durch die Büsche

Vom Stützpunkt in Krasnodar kamen Lastwagen. Sie holten die Ladung und die Besatzung ab. Und sie tauschten das Benzin des Flugzeugs aus: 2500 Liter. Mit dem Werkmeister, einem Feldwebel, an Bord wagte August Vogt, was ein Pilot nur im Krieg riskiert – einen Start auf welligem Untergrund in einer bewachsenen Landschaft. „Das war nicht mal Fifty-Fifty, dass wir das überleben“, sagt der ehemalige Pilot.

Um starten zu können, musste er auf eine Geschwindigkeit von 140 Kilometer pro Stunde beschleunigen. Das Unterfangen klappte – fünf Minuten lang. Um 14.40 Uhr fielen abermals alle drei Motoren aus. August Vogt stürzte zum zweiten Mal an diesem Tag ab – dieses Mal aus 400 bis 500 Metern Höhe. Das Flugzeug blieb unversehrt. Wie sich herausstellte war erneut Wasser im Sprit. Ob das Sabotage oder Schlamperei war, ließ sich nicht herausfinden. Fakt war: Das Gemisch gefror im Vergaser, sobald die Piloten in Luftschichten aufstiegen, in denen Minusgrade vorherrschten. Am Boden zeigte das Thermometer – ja, im November in Russland – plus drei Grad an.

Ähnliche Vorfälle sind in August Vogts Flug-Büchern als „Motorschaden Mitte“, als Instrumentenausfall oder mit dem Vermerk „linker Motor brennt“ niedergeschrieben – „ganz lapidar“, wie der einstige Pilot feststellt. Ein technischer Defekt bewahrte den Horber im November 1942 vor einem Einsatz in Stalingrad. Fünf Besatzungen seiner Staffel wurden abkommandiert – drei kamen ums Leben. Als Vogt mit der reparierten Maschine zurück kam, hieß es: „Die Besatzung Vogt wäre hundertprozentig in Stalingrad dabei gewesen.“ Die Flieger-Kameraden berichteten dem Horber von „halb erfrorenen Soldaten“, die sich an den Fahrwerken und Höhenleitwerken festgehalten haben. Die eigenen Leute haben geschossen, um die Starts nicht zu gefährden.

Lebensgefährliche Ausfälle

Im dritten und vierten Kriegsjahr häuften sich die lebensgefährlichen Ausfälle der Flugzeug-Technik. „Die Maschinen waren heruntergewirtschaftet“, berichtet August Vogt. Der Nazi-Diktatur ging das Geld für den Krieg aus. Darunter litt die Wartung.

Die Ost-Front der Wehrmacht war zeitweise 3200 Kilometer lang und reichte vom Polarkreis bis auf die Halbinsel Krim im Schwarzen Meer. „Da sind Divisionen versickert wie der Regen im Wüstensand“, erinnert sich August Vogt. Die Wehrmacht marschierte 1941 immer weiter vorwärts. Der besetzte Raum wurde größer und größer – die Anforderungen an den Nachschub-Transport wuchsen. Im Herbst 1941 kam August Vogt zu einer Transportstaffel. Die brauchte Piloten, die im Nacht, Blind- und Schlechtwetter-Flug erfahren sind. Der gebürtige Bildechinger hatte die große Kampffliegerschule in Thorn an der Weichsel und die Blindflugschule in Rahmel bei Danzig absolviert. Nach sieben Jahren Volksschule und seiner Zeit als Freiwilliger im 100.000-Mann-Heer hatte er am 1. Oktober 1938 in Detmold die Ausbildung zum Flugzeug-Führer begonnen. Die meisten Flugschüler hatten Abitur.

Stundenlang im Blindflug

Bis zu 5 Stunden und 20 Minuten lang saß August Vogt während der Ausbildung hinter schwarzen Vorhängen im Cockpit. Er hat 23 Flugzeug-Typen geflogen. Nach der Blindflug-Prüfung, der höchsten Schule der Luftwaffe, kam er zum „Kampfgeschwader 27 Bölke“. Das Geschwader hatte einen Sonderstatus. Einzelne Piloten konnten im Auftrag des Oberkommandos der Wehrmacht Streckenflüge üben. Zwei Monate lang machte Vogt Kurier-Flüge in Mitteleuropa, ehe er mit seinem Bomber-Geschwader in einer Geheimverlegung vom französischen Bourges (Cher) ins rumänische Foscani (östlich der Karpaten) kam. Am 28. Juli 1941, um 2.42 Uhr, flog er seinen ersten Angriff. Das Ziel war der Kriegshafen in Odessa.

Anhand seiner zwei Flugbücher kann August Vogt seine Erlebnisse belegen. Bis zu zehn Transportflüge am Tag hat er gemacht und parallel dazu immer wieder nächtliche Feindflüge. Das schlauchte die Piloten. Von Mai bis Juli 1943 gab es besonders viele Sondereinsätze, die in August Vogts Flugbüchern rot unterstrichen sind. Insgesamt waren es 25 dieser Art. Die Feindflüge hießen so, weil sie „bis weit hinter die gegnerischen Linien“ reichten. „Sie dienten der strategischen Kriegsführung“, sagt August Vogt. Mehr verrät er nicht.

Start mit zerschossenem Reifen

Die Piloten versuchten das feindliche Artillerie-Feuer zu überfliegen, indem sie mit ihren Maschinen bis zu 5500 Meter hoch gingen. Die Motoren der JU 52 brachten in dieser Höhe nur noch halbe Leistung. Der Sauerstoff und der Luftdruck wurden knapp. „Die Ansaugventile haben genauso gejapst wie wir“, erzählt Vogt. In der JU 52 war – im Gegensatz zum Bomber Heinkel 111 (He 111) – weder ein Sauerstoff-Gerät für die Besatzung noch eine Heizung eingebaut.

Als die Wehrmacht von den russischen Truppen zum Rückzug gezwungen war, startete der Horber in Minsk mit einem zerschossenen Reifen. Vogt: „Schon der Start mit dem ,Platten’ auf einer Seite, besonders aber die Nachtlandung in Warschau war sehr kritisch.“ Im August 1944 zog das Oberkommando der Luftwaffe sämtliche JUs in Insterburg an der Ostfront zusammen. In drei Tagen und drei Nächten flogen sie eine Division – das sind mehrere 1000 Soldaten – in den Kessel von Perno (Estland). August Vogt: „Man musste befürchten, dass die verheizt werden, um russische Kräfte zu binden.“Am31. August 1944 flog er seinen letzten Transport-Einsatz.

Seine Flieger-Staffel in Thorn wurde aufgelöst. Er sollte sich zum Fluglehrer ausbilden lassen – hieß es zunächst. Der weitere Kriegsverlauf erforderte Wehrmachts-Streifen, um beispielsweise Plünderungen zu verhindern und Wehrmachts-Züge zu kontrollieren. Vogt wurde dafür abkommandiert. „Ich habe ein Riesenglück gehabt, dass ich in keine Situation gekommen bin, die mir heute noch Sorgen bereiten würde“, sagt der Horber. Die Amerikaner haben ihn am 1. Mai 1945 am Grenzfluss Salzach gefangen genommen. Er kam in mehrere Gefangenenlager in Deutschland und Monate später in den Norden und den Südwesten Frankreichs sowie in ein Lager an der Atlantikküste. „Was da an Gefangenen krepiert ist . . .“, sagt er. Im August seien 47 von rund 120 Gefangenen gestorben. Das hat er in seinem Tagebuch aufgeschrieben. An die Zwangsarbeit auf einem Bauernhof hat er bessere Erinnerungen. Zu dem französischen Landwirt halten August Vogt und seine Kinder bis heute Kontakt. Am 7. Januar 1948 ist der Horber freigelassen worden.

7764 Soldaten sind mitgeflogen

Nach seiner Heimkehr galt es, eine neue Existenz aufzubauen. Er lernte Gipser und übernahm nach der Meister-Prüfung das Geschäft seines Schwiegervaters. Jahrzehnte lang wollte er nichts mehr von der Fliegerei wissen. Erst als Ruheständler fand der heute 88Jährige die Zeit, seine Flugbücher auszuwerten. Von den 2516 Flügen waren 121 Nachtflüge mit meist zwei- und dreimotorigen Maschinen. 4610 Besatzungsmitglieder hatte er über die Jahre hinweg gerechnet an Bord. Hinzu kamen 3154 Soldaten im Laderaum. August Vogt transportierte Kriegsgerät, Munition, Sprit und Flug-Motoren (mit je einer Tonne Gewicht) für Jäger und Stuka an die Front – auf dem Rückflug nahm er Verwundete, Kuriere und Urlauber mit. Knapp 1000 Verletzte und Kranke sind im Flugbuch eingetragen. „Trotz mehreren Notlandungen wurde kein einziger verletzt“, berichtet August Vogt. Mit seinem einstigen Bordfunker Heinz Könkhe, mit dem er 788 Flüge gemacht hat, trifft er sich hin und wieder.

Welche Flugzeug-Typen er wie oft geflogen hat, ist ebenfalls statistisch erfasst. Die meisten Flüge – 1700 Stück – hat er mit der JU 52 gemacht. Mit dem Modell, das als „Tante Ju“ bekannt ist. 263mal ging er mit zweimotorigen Bomber-Typen in die Luft. Allein mit dem He 111 absolvierte er 189 Flüge. Für seine Einsätze hat er einige Auszeichnungen erhalten, wie er am Rande bemerkt. Er zeigt sie nicht. Was für August Vogt nach 14 Jahren als Berufssoldat und einem Krieg zählt, fasst er in drei Worten zusammen: „Überlebt und fertig.“

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik

Mittwoch

25

September 2002

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
Horb