Die Bibel mit den Augen der Opfer lesen
Veröffentlicht in: Berichte, Kirche
Pfarrer Vollmer stellte Entwurf eines neuen Katechismus vor / Ein Aufruf zum mündigen Christsein
„Die Bibel muss mit den Augen ihrer Opfer gelesen werden, um sie als Buch des Friedens zu entdecken.“ Das hat der ehemalige Mühlener Pfarrer Dr. Jochen Vollmer am Donnerstag gesagt, als er seine Fassung eines neuen Katechismus vorstellte. Er kritisierte, dass die Bibel mit der Aura des Heiligen umgeben worden ist. „Der Glaube ist nicht zeitlos, sondern er muss ständig fortgeschrieben werden.“
Mühlen. „Die Christen sind weithin sprachlos geworden“, sagt Jochen Vollmer. „Der Islam breitet sich aus – teilweise in aggressiver Weise. Wir müssen uns die Frage stellen: Sind wir auf den Dialog mit dem Islam vorbereitet oder haben wir in längst verloren?“ Dem Pfarrer in Ruhe geht es um ein zeitgemäßes und von Vernunft geprägtes Bibel-Verständnis. „Wir wissen heute mehr als Paulus“, sagte er in Mühlen. „Mündiges Christsein heißt, dass ich meinen eigenen Mund gebrauche und keinen Vormund brauche, der mir sagt, was ich zu glauben habe.“
Mut zum Frieden
„Der Glaube an den Gott des Friedens“ – so hat Jochen Vollmer seinen Entwurf eines neuen Katechismus überschrieben. In einem Katechismus soll das Wesentliche des christlichen Glaubens auf einprägsame Weise formuliert sein. Der Mut zum Frieden sei eine Grundhaltung des Glaubens. So begründet der Pfarrer den Titel seines Katechismus, wobei er feststellt: „Diejenigen, die Gewalt und Krieg befürworten, können sich nicht minder auf die Bibel berufen, wie die, die gegen Gewalt und Krieg eintreten.“ Vollmer zählt sich zu denen, die Krieg und Gewalt ablehnen. Das begründet er nicht, indem er sich „die Friedens-Rosinen aus der Bibel herauspickt“, sondern indem er reflektiert.
Jochen Vollmer spricht von einem in der Bibel erkennbaren Gefälle (im Sinne einer Tendenz), die den Sippen-Gott unter anderem zum Volksgott werden lasse und schließlich zum Friedensgott – zu dem Gott, der seine Feinde liebt. Vollmer beruft sich auf „markante Stellen der Bibel“ wie die Schlussformulierungen der Briefe, in denen immer wieder vom Gott der Liebe und des Friedens die Rede ist. Das „erschreckende Ausmaß an Gewalt“, dass in der Bibel von Gott und den Menschen ausgeht, sieht er vor folgendem Hintergrund: „Die Bibel überliefert auch überwundene Gottes-Bilder.“ Und: „Wir haben es in der Bibel mit furchtbaren Missverständnissen Gottes zu tun.“ Nicht gekennzeichnete Einschübe verfälschen teilweise die Ursprungstexte. Vollmer spricht auch von der Menschlichkeit der Bibel, die aber wie die Missverständnisse nicht das Problem sei – sondern „die Aura des Heiligen, mit der Kirche die Bibel umgeben hat.“ Die Bibel habe unzählige Opfer gefordert – unter anderem Frauen, Andersgläubige und Homosexuelle. Die Täter hätten in falscher Gottes-Erkenntnis gehandelt. Der promovierte Theologe bezeichnet es als unverantwortlich, Bibel und „Heilige Schrift“ gleichzusetzen.
Gebote neu interpretiert
Jochen Vollmer hat seinem Katechismus eine „Anleitung, die Bibel als Buch des Friedens mit den Augen ihrer Opfer zu lesen“, vorangestellt. Er beginnt mit dem Gott des Friedens und seiner Gabe des Friedens. Dann folgt das Gebot des Friedens, dass er ähnlich den traditionellen zehn Geboten untergliedert hat. Die Aussage der Gebote interpretiert Vollmer verschiedentlich anders, als das die meisten im Konfirmanden-Unterricht gelernt haben dürften. Das Gebot, seine Eltern zu ehren, versteht er nicht als Aufruf zum Gehorsam. Die „alten Eltern“ stehen nach seiner Meinung für die „sozial Schwachen“, mit denen fürsorglich umgegangen werden solle.
Das Gebot, „du sollst nicht töten“, gebietet aus Vollmers Sicht eine nachhaltige und gerechte Weltordnung. Die gegenwärtige Form der Globalisierung sei das Gegenteil: „Immer mehr Menschen müssen sich mit immer weniger begnügen.“ Das gefährde den Frieden von Tag zu Tag mehr.
Christen müssten den Göttern des Marktes und der Gewalt entsagen, sagte Vollmer. Biblische Gerechtigkeit sei an der Bedürftigkeit eines Menschen orientiert und nicht an Leistung und Verdienst. Das Gebot, nicht auf das auszusein, was „dem Nächsten“ gehört, bezieht der Pfarrer auch auf die Lebensgrundlagen künftiger Generationen. Sie gelte es zu schützen.
Das „Unser Vater“ als Gebet des Friedens, die Taufe als Einberufung zum Frieden und das Abendmahl als Feier des Friedens folgen in Jochen Vollmers Katechismus. „Wer ,unser Vater‘ betet, kann gegen seine Brüder und Schwestern keine Kriege führen“, sagt der Pfarrer. Er befürwortet die Erwachsenen-Taufe und sieht im Teilen des Brotes den Sinn, dass „alle leben können“.
Jochen Vollmer redet sich in Rage, wenn er darüber spricht, dass der Kirche im Falle von Psalm-Übersetzungen im Gesangbuch „Einheit vor Wahrheit“ geht, und dass der „Ungeist des Patriarchats“ dazu geführt habe, dass Bibelstellen verfälscht wurden. Er ist keiner, der Jesus an Weihnachten als Sohn Davids besingt. „David war ein Massenmörder. Gott kann nie und nimmer mit diesem David gewesen sein.“
Bekenntnis-Tradition ändern
Noch immer werden Pfarrer auf die Bekenntnisse der Reformation verpflichtet, nach denen Übeltäter mit dem Schwert gestraft und „rechtmäßig Kriege“ geführt werden können. So lange die Kirche nicht ihre Bekenntnis-Tradition aufarbeite, habe sie kein Recht, nach außen Ratschläge zu erteilen, sagt Jochen Vollmer. Das Gelände, in dem die Kirche das Ziel des Glaubens verfolge, ändere sich ständig. „Also muss sich auch der Weg ändern.“
Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik