„Vergeben kann man – vergessen nicht“
Veröffentlicht in: Ausland, Reportagen
Geschichte: Donauschwaben reisten in die Vergangenheit
Erinnerung und Versöhnung: Im serbischen Knicanin verhungerten nach dem Zweiten Weltkrieg 12.000 Deutsche
Ein historisches Kapitel, das in vielen Geschichtsbüchern fehlt: Serbische Partisanen haben von 1944 bis 1948 viele tausend Donauschwaben verhungern lassen oder ermordet. Ihr Schicksal soll ein Mahnmal für die Zukunft sein – darauf hat die Heimatortsgemeinschaft Mramorak mit Jahre langer Versöhnungs-Arbeit hingewirkt.
Die Einreise-Kontrolle an der serbischen Grenze zieht sich hin, obwohl kaum ein Fahrzeug an der Zollstation zu sehen ist. Knapp 50 Donauschwaben aus Deutschland, Österreich und den USA warten in ihrem Reisebus – viele mit gemischten Gefühlen. Das liegt weniger am drohenden Zeitverlust als vielmehr an den traumatischen Erlebnissen in ihrer Kindheit und Jugendzeit.
Rund die Hälfte der Reisenden war von 1945 bis 1948 im Vernichtungslager Rudolfsgnad gefangen, wo kommunistische Partisanen des jugoslawischen Machthabers Tito mit tödlicher Willkür herrschten: 12.000 Menschen starben. Die meisten sind verhungert, andere wurden totgeschlagen oder erschossen – unter ihnen Mütter, Großeltern und Geschwister der Donauschwaben im Bus. Sie stammen aus Mramorak, einer Gemeinde im heutigen Serbien und haben sich in Deutschland zu einer Heimatortsgemeinschaft (HOG) zusammengeschlossen, um ihr Brauchtum zu bewahren und die Erinnerung an ihr Schicksal wachzuhalten. Im September machten sie sich auf eine Reise, die 1500 Kilometer weit und rund 60 Jahre in die Vergangenheit führte.
Das kommunistische Zeitalter, in dem die Donauschwaben angefeindet wurden, gilt als überwunden – Gefahr droht an der serbischen Grenze nicht mehr. Ein ungutes Gefühl löst es trotzdem aus, so lange von uniformierten Serben hingehalten zu werden. Nach einer knappen Stunde kommt der Fahrer zurück: Es waren offenbar die gewöhnlichen Formalitäten, die auch ihn unerwartet viel Zeit und Nerven gekostet haben.
Auf einer Autobahn geht es weiter in Richtung Belgrad. Aus Fahrzeug-Fenstern geworfener Plastik-Müll säumt den Grünstreifen, an den schwarze Sonnenblumen-Kulturen und Mais-Felder in welken Braun- und Gelbtönen angrenzen. Die Sonne hat die Frucht verbrannt, bis vor wenigen Wochen war es hier mehr als 40 Grad Celsius heiß. Als der Reisebus aus Karlsruhe kommt, ist der Himmel bewölkt. Das Außenthermometer zeigt nicht einmal mehr 20 Grad an.
Die Erinnerung lässt in sprichwörtlichem Sinne frösteln. Die Donauschwaben sind der Vergangenheit inzwischen sehr nahe gekommen. Ihre Schicksale fahren mit. „Nach der Heimat zieht’s mich wieder“, singen sie im Bus. „Es ist die alte Heimat noch.“
In der Tat scheint in Mramorak teilweise die Zeit stehengeblieben zu sein. Die Straßen abseits der asphaltierten Ortsdurchfahrt sind sandig und würden in Deutschland bestenfalls als Feldwege durchgehen. Das Stadtbild ist großteils dasselbe wie in den 40er-Jahren – allerdings bröckelt nicht nur der Putz vieler Häuser, sondern ganze Gebäude sind am Verfallen. Vor dem Zweiten Weltkrieg waren 3500 der 7500 Einwohner deutschstämmig – heute leben hier insgesamt nur 3500 Menschen.
Die Gemeinde liegt am Rande der einzigen Sandwüste Europas, im serbischen Teil des Banats – östlich von Belgrad. Nach Jahrhunderten unter türkischer Herrschaft hatte Österreichs Kaiserin Maria Theresia in dieser Gegend ihre Militärgrenze gezogen. In deren 20 Kilometer breitem Schutzstreifen lag Mramorak.
1717 wurde der Ort erstmals urkundlich erwähnt und mit zwölf Häusern als „Mramoraker Gut“ geführt. Die ersten zwölf Siedler kamen aus Hessen – unter ihnen ein Peter Zimmermann. Er ist ein Vorfahre des gleichnamigen Vorsitzenden der Heimatortsgemeinschaft – von Peter Zimmermann aus Horb am Neckar. Hungersnöte ließen die Deutschen im 18. Jahrhundert auswandern. Auf der Donau trieben sie einer ungewissen Zukunft entgegen.
Mramorak liegt rund 15 Kilometer vom Fluss entfernt. Die Siedler haben das fruchtbare Niemandsland in Äcker verwandelt. Eine überlieferte Weisheit besagt: „Den Ersten der Tod, den Zweiten die Not und den Dritten das Brot.“ Doch dem Brot folgte abermals die Not – kriegsbedingt. Davon können die Mramoraker ein Lied singen – zum Beispiel das Flüchtlings-Lied, das sie im Bus angestimmt haben. In der letzten Strophe heißt es: „Jetzt sehen fremde Menschen aus den Fenstern – es war einmal mein Elternhaus.“
Trauer und Schwermut weichen aber der Freude, als die „fremden Menschen“ nicht nur aus den Fenstern sehen, sondern vor die Tür treten und die Donauschwaben in ihre Elternhäuser bitten. Schnell hat sich die Nachricht von ihrer Ankunft verbreitet. Manche kommen zum ersten Mal seit 1945 wieder in ihr Kinderzimmer. Andere haben schon bei früheren Besuchen die neuen Hauseigentümer kennengelernt – von denen manche in anderen Gegenden Jugoslawiens enteignet und zum Umzug nach Mramorak genötigt wurden, wie sie erzählen.
Die unzähligen privaten Empfänge verlaufen ausnahmslos herzlich – genauso wie die offizielle Begrüßung: Die „Deutsch-Serbische Gesellschaft“ hat die Gäste zum Mittagessen ins Feuerwehrhaus eingeladen. Auf dem Vorplatz tanzt die Folkloregruppe – ähnlich wie bei der ersten Mramorak-Reise der Heimatortsgemeinschaft. Franz Apfel aus Bad Tölz, der die Fahrten organisiert, kann sich noch gut erinnern: „Man rechnet damit, dass Steine geworfen werden – und dann stehen die jungen Menschen da und tanzen. Da bleibt kein Auge trocken.“ Die flinke Fußarbeit der Tänzerinnen und Tänzer fasziniert die Deutschen immer wieder. Dieses Mal werden sie kurzerhand untergehakt: Sie tanzen mit.
Die wieder und neu gewonnen serbischen Freunde begleiten die Donauschwaben tags darauf nach Bavaniste. Der Bus holpert dort am Morgen über das lückenhafte Pflaster einer Straße auf die Felder hinaus. Dieselbe Strecke nahmen vor 63 Jahren die Pferdewagen serbischer Partisanen, auf denen gefesselte Männer und einzelne Frauen in den Tod fuhren. Mindestens 110 Donauschwaben sind am 20. Oktober 1944 auf dem „Schinderacker“ bei Bavaniste hingerichtet worden – einem Platz, wo bis vor kurzem Tierkadaver abgelegt wurden. Das stank zum Himmel, wie HOG-Mitglieder berichten, die schon in früheren Jahren dort waren
105 Tote in dem Massengrab stammen aus Mramrorak. Der Älteste wurde 74 Jahre alt, der Jüngste war der 17-jährige Johann Henke. Sein Bruder Harald aus Laichingen ist am 8. September dabei, als die Heimatortsgemeinschaft das Massengrab aufsucht, um dort eine Gedenkstätte mit 110 Kreuzen einzuweihen. Erna Bitsch aus Salzburg steht an diesem Tag zum ersten Mal am Grab ihres Vaters. Zusammen mit Cousinen wagt sie den Schritt – alleine wollte sie sich das nicht zumuten: „Ich wusste nicht, wie es mir gehen wird“, sagt sie nachher. Der Mord an ihrem Vater machte sie zur Vollwaisen. Wie sie sich fühlt, als sie seinen Namen auf dem Gedenkstein liest, kann sie nicht beschreiben. „Es ist Wahnsinn“, sagt sie unter Tränen.
Viele weinen, manche zittern. Das Wissen um die Qualen der Erschossenen macht die Vergangenheits-Bewältigung noch schwieriger. Magdalena Emrich aus Frickenhausen weiß von ihrer Mutter, dass die Gefangenen offene Wunden hatten, in welche die Partisanen Salz gestreut haben. Die Mutter hatte ihren Mann nur an der Stimme erkannt, als sie ihn noch ein letztes Mal sah – so sehr hatten ihn die Misshandlungen entstellt. Und Jakob Sattelmayer aus Waiblingen erinnert sich an das Gefängnis der Männer, das Blutspritzer bis an die Decke aufgewiesen habe.
Magdalena Emrich hofft durch die Trauerfeier an der Gedenkstätte etwas zur Ruhe zu kommen. Mit Krücken hat sie sich auf die achttägige Reise gemacht. Ihre Ärzte stimmten nur widerwillig zu, weil sie dringend am Rücken operiert werden muss. Ein Chirurg knüpfte sein Einverständnis an eine Bedingung: Er wolle dafür während der nächsten Narkose nicht mehr als Tito beschimpft werden, meinte er augenzwinkernd. Ein Beispiel, wie sehr die Nachkriegs-Erlebnisse das Unterbewusstsein der Überlebenden geprägt haben.
Das Massaker in Bavaniste gilt als Vergeltungsaktion. Für was sich die Partisanen sich konkret rächen wollten, das wissen die Mramoraker nicht genau. Die Hinrichtung könnte beispielsweise die Antwort auf ein deutsches Kriegsgerichts-Urteil gewesen sein, nach dem vier oder fünf Serben zum Tode verurteilt worden sind. Ihrer hat die Heimatortsgemeinschaft übrigens bei einer früheren Mramorak-Fahrt gedacht. In Bavaniste könnte aber auch heimgezahlt worden sein, dass ein Serbe vom deutschen „Heimatschutz“ in Mramorak erschossen wurde, weil er nach der Sperrstunde noch unterwegs war. Nach einer dritten Erklärung reagierten die Partisanen auf die Verbrechen der Waffen-SS-Division „Prinz Eugen“, in die 1942 auch Mramoraker eingezogen worden waren. Diese Einheit soll ganze Dörfer niedergebrannt und die Einwohner erschossen haben.
Mit ihrem Leben bezahlt haben am 20. Oktober 1944 Menschen, von denen die meisten nicht einmal theoretisch in der SS-Division gekämpft haben können – alte Männer. Ihnen in Bavaniste eine ehrwürdige Ruhestätte zu schaffen, das ist den Hinterbliebenen seit Jahren ein Anliegen. Während des Kommunismus in Jugoslawien war an eine solche Gedenkstätte nicht zu denken. „Sie wurde nur möglich im Rahmen einer wunderbaren Versöhnung“, sagt Pfarrer Jakob Stehle aus Reutlingen im Einweihungs-Gottesdienst.
Diese Trauerfeier kommt für viele Verwandte der Toten einer verspäteten Beerdigung gleich. „Früher ist es mir nicht möglich gewesen, mich von meinem Vater zu verabschieden“, erzählt der 79-jährige Philipp Bitsch aus Göppingen. Dass es möglich wurde, ist vor allem ein Verdienst des HOG-Vorsitzenden Peter Zimmermann aus Horb. Er hat nicht nur tatkräftig den Bau der Gedenkstätte begleitet, sondern auch den Großteil der Vorarbeit geleistet und zum Beispiel eine Deutschland-Reise der Mramoraker Folklore-Gruppe organisiert. Diese Kultur-Initiative habe das Eis gebrochen, sagt Pfarrer Stehle, der geistliche Leiter der Heimatortsgemeinschaft.
Die Folklore-Gruppe bildet bei der Gedenkfeier in Bavaniste mit der Feuerwehr ein Ehrenspalier. Die serbische Kreisstadt Kovin hat die Gedenkstätte mit Sachleistungen im Wert von 9000 Euro unterstützt – in einem Land, in dem ein üblicher Monatslohn 200 Euro beträgt und ein neues Einfamilienhaus 25.000 Euro kostet. Die Bürgermeister von Kovin, Bavaniste und Mramorak halten bei der Einweihung Reden, in denen sie betonen, dass solche Greueltaten nie wieder passieren dürfen. Wie hinterher bekannt wird, haben sie dafür gesorgt, dass Zivilpolizisten die Veranstaltung sichern – für den Fall, dass extremistische Serben hinzukommen sollten.
Von deutscher Seite ist der Horber Oberbürgermeister und FDP-Landtagsabgeordnete Michael Theurer als politischer Vertreter angereist: „Von Hitler-Deutschland ging ein Krieg aus, der Europa und fast die ganze Welt in Chaos und Zerstörung geführt hat und Millionen Menschen den Tod gebracht hat. Deutsche waren Täter – aber wie hier in Bavaniste auch Opfer schrecklichen Unrechts. Es gibt nichts zu beschönigen und nichts zu relativieren. Es erfordert Kraft, dieser Geschichte ins Auge zu sehen.“
Um der Geschichte ins Auge zu sehen, muss man sie kennen. Das Schicksal der Donauschwaben scheint in der Geschichtsschreibung allerdings kaum berücksichtigt zu sein. Vom Massaker in Bavaniste wusste bis vor kurzem nicht einmal die deutsche Botschaft in Serbien etwas, wie ein Diplomat an der Gedenkstätte verriet. Und über die serbischen Vernichtungslager, in denen nach dem Zweiten Weltkrieg viele tausend Donauschwaben umgekommen sind, findet sich kaum etwas in Schulbüchern. Eines dieser Vernichtungslager war an einem Ort, dessen Name wie Hohn in den Ohren der Überlebenden klingt: in Rudolfsgnad. Heute heißt die Gemeinde Knicanin.
Der Bus der Mramoraker fährt am dritten Tag der Reise durch Straßen, die von breiten Rasenstreifen und Bäumen gesäumt sind – doch keiner der Bäume ist älter als 60 Jahre alt. Als die Tito-Partisanen das Lager Rudolfsgnad 1948 aufgelöst haben, war das letzte Grün gegessen und das letzte Holz längst verbrannt. In der einstigen 6000-Einwohner-Gemeinde waren bis zu 23.000 Deutsche gleichzeitig gefangen. Der Tod machte Platz für neue Lager-Insassen: 33.000 sollen über drei Jahre verteilt interniert gewesen sein. Rund 12.000 von ihnen liegen in Massengräbern am Ort – darunter Geschwister, Mütter, Tanten und Großeltern der Mramoraker. Im Winter 1945/46 muss es besonders schlimm gewesen sein. Wochenlang habe es nichts zu essen gegeben, berichten ehemalige Häftlinge – die Leute verhungerten massenhaft. „Alte Leute und Säuglinge sind zuerst gestorben“, erzählt Peter Zimmermann. „Mütter hatten keine Milch mehr für ihre Babys.“ Aus Sicht der Überlebenden hatte das System: Die Partisanen wollten die Donauschwaben vernichten.
Peter Zimmermann durchlitt diese Zeit im Grundschulalter. Er schlief mit 25 Leuten in einem Zimmer. Nachts fraßen Ratten die Schlafenden an. Es fehlte an allem: Brennnesseln wurden wie Spinat gegessen, Salz gab es nicht. Knochen wurden unzählige Male gekocht, in der Hoffnung, noch ein bisschen Geschmack herauszubekommen. Krankheiten wie Ruhr und Typhus breiteten sich aus. Zimmermanns Schwester Katharina ist mit 16 Jahren verhungert. Seine Cousine Johanna Blond musste als kleines Mädchen mit ansehen, wie ein Partisane eine alte Frau mit dem Gewehr totschlug, weil sie beim Holz-Holen vor Schwäche aus der Reihe gestolpert war. „Wir Kinder haben geweint.“
Die Toten wurden auf die Straße gelegt. Im Winter, wenn der Boden gefroren war, bildeten sich Leichenberge. Wenn sie abtransportiert wurden, klapperten die ausgemergelten Körper wie Holz auf den Pferdefuhrwerken. Am Friedhof schwemmte das Grundwasser die Toten immer wieder nach oben. Nachdem rund 3000 Deutsche dort vergraben waren, ließen die Partisanen auf dem Hügel vor der Gemeinde neue Massengräber anlegen. Karl Schick aus Zimmern ob Rottweil musste als Zwölfjähriger helfen, die Gruben auszuheben und die Leichen darin zu stapeln – Kopf auf Fuß in vier Schichten. Mit den toten Körpern bauten die Kinder Treppen, um wieder aus den Löchern zu kommen. Wenn Karl Schick heute auf den Gräbern steht, berührt ihn das nicht mehr, wie er sagt – „weil ich so viele mit den eigenen Händen verscharrt habe.“ Und er fügt hinzu: „Ich trage das in mir, so lange ich lebe. Was schlimm war, kommt immer wieder – die guten Sachen nicht.“
Kinder, die nachts aus dem Lager entwischten, um anderntags Nahrung zu erbetteln, fielen in der Dunkelheit manchmal in die offenen Gräber, in denen schon Leichen lagen. Wenn sie erwischt wurden, zwangen die Partisanen sie, sich gegenseitig zu schlagen – bis die Backen geschwollen waren, wie sich Karl Schick erinnert. Aufseher machten sich einen Spaß daraus, Kinder in Tonnen zu stecken und sie den Damm an der Theiß hinunterollen zu lassen. Baden durften sie im Fluss aber nicht. Als Johanna Blond dabei von einem Wachmann ertappt wurde, schlug er sie derart mit einer Rute, dass sie noch heute eine Narbe am Rücken hat. Eine andere Strafe im Lager war es, festgestampfte Misthaufen mit den bloßen Händen umsetzen zu müssen. Andreas Fissler aus Zweibrücken berichtet von einer 18-Jährigen, die so lange an einen Pfahl in der Sonne festgebunden war, bis sie durchdrehte. Und Philipp Bitsch hat nicht vergessen, wie er einem Partisanen das Frühstück bringen musste – „ich Hungerleider“
Die Frage nach dem „Warum“ wird die Überlebenden wohl ewig umtreiben. „Antworten haben wir keine“, räumt Pfarrer Stehle im Gottesdienst auf den Massengräbern ein – nur Gott habe eine Antwort: die Auferstehung der Toten. Stehle hat als Kleinkind zwei Jahre lang in Rudolfsgnad überlebt. Er erklärt die Trauerfeier zum Auferstehungs-Gottesdienst und appelliert an seine Landsleute: „Irgendwann müssen wir es lassen, es zurücklassen, Ihr Lieben.“
Versöhnliche Klänge ertönen auch auf dem Friedhof in Rudolfsgnad, als Lorenz Baron die Friedensglocke der Kapelle läutet. Auf Initiative des 75-Jährigen aus Kirchheim-Teck sind die Gedenkstätten in Knicanin entstanden. Er hat für sein Engagement sogar die Ehrenbürgerschaft der Gemeinde angeboten bekommen – und angenommen. Hass scheinen viele Donauschwaben nicht oder nicht mehr zu empfinden. Augenscheinlich ist der Frieden wieder eingekehrt, wie er in Mramorak schon vor dem Zweiten Weltkrieg selbstverständlich war: Serben, Deutsche, Ungarn und Rumänen lebten miteinander, wie es inzwischen im vereinten Europa angestrebt wird.
Svetosar Milutinov, ein 79-jähriger Serbe aus Mramorak, wirkt immer noch ratlos ob der historischen Entwicklungen. Er ist einst im deutschen Viertel aufgewachsen und betont: „Wenn vor 1941 jemand gesagt hätte, dass wir uns hassen werden, dann hätte ich gesagt, das ist unmöglich.“ Mit der Zeitung und ihren Propagandaberichten kam jedoch der Krieg, wie Franz Apfel erzählt. Die Donauschwaben nähten heimlich Hakenkreuz-Flaggen, um die deutschen Truppen begrüßen zu können. Kampfhandlungen gab es im Raum Mramorak aber keine, das bestätigt auch Svetsoar Milutinov, dessen Namen die deutschen Alterskameraden nie aussprechen konnten. Für sie ist er bis heute der „Tosa“ geblieben – wobei er inzwischen das „Mramoraker Deutsch“ perfekter spricht als sie…
Die Entwicklungen der Kriegs- und Nachkriegsjahre konnten dennoch nicht alles zerstören, was an zwischenmenschlichen Bindungen gewachsen war. Der Bahnhofsvorsteher aus Mramorak hat den Zwölfjährigen Jakob Sattelmayer beispielsweise kurzerhand weggesperrt, als die Donauschwaben in Vieh-Waggons verladen wurden: Er bewahrte ihn vor dem Vernichtungslager. Von den Söhnen des Bahnvorstehers sagt der heutige Waiblinger: „Sie waren für mich wie Brüder.“ Er nutzte einen Besuch in Mramorak, um mit ihnen einen Kranz am Grab ihrer Eltern niederzulegen.
Wie beliebig Geschichte sein kann, belegt der Bildband der Heimatortsgemeinschaft Mramorak: Ein und dieselben Männer sind dort in verschiedenen Uniformen zu sehen – der ungarischen, der serbischen und jener der Waffen-SS. Dazwischen liegen nur ein paar Jahre. Und nach dem Krieg ging es ähnlich weiter. Bis 1948 haben Tito-Partisanen die Donauschwaben als Todfeinde in Vernichtungslager gesperrt – danach bekamen sie die jugoslawische Staatsbürgerschaft und Anfang der 50er-Jahre wurden sie zur Landesverteidigung in die Armee eingezogen. Die Ausreise nach Deutschland machten ihnen die jugoslawische Regierung teilweise gleichermaßen schwer wie die deutsche. Karolina Takac aus Ulm erinnert sich: „Als es darum ging, den Kopf hinzuhalten, waren wir Deutsche. Als wir dann aus Jugoslawien raus wollten, waren wir keine Deutschen.“ Und wer endlich in Deutschland war, dem ging es mitunter wie HOG-Kassenwart Richard Sperzel aus Frankenthal – er wurde als „dreckiger Jugoslawe“ beschimpft.
Diese Erfahrungen haben geprägt: „Ich habe mit jedem Mitgefühl, der wegen seiner Religion oder seiner Volkszugehörigkeit verfolgt wird“, sagt Richard Sperzel. Diese Sensibilität für die Situation anderer ist den Donauschwaben gemeinsam. Philipp Bitsch: „Ein ähnliches Schicksal wie wir haben Leute in allen Kriegen – auch in denen, über die heute in den Nachrichten berichtet wird.“ Hinter dieser Erkenntnis verbirgt sich die Einstellung, die Pfarrer Jakob Stehle „die bleibende Verpflichtung zum Frieden“ nennt.
Nach den jüngsten Balkan-Kriegen geht es den Serben ähnlich wie den Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg: „Ich würde ihnen gerne ein Stück weit aus der Isolation heraushelfen“, sagt Erich Schurr, der ehemalige Leiter der Diakonischen Bezirksstelle Calw. Er ist auf der Suche nach einem sozialen Projekt in Serbien, das er als Unruheständler unterstützen kann. Eine Rückkehr für mehrere Monate kann er sich vorstellen – ganz will aber niemand in die alte Heimat zurück. „Von uns will niemand sein Elternhaus wiederhaben“, betont Peter Reiter aus Oetisheim, der froh ist, nach dem Krieg nach Deutschland gekommen zu sein: „Keiner von uns hätte das erreicht, was wir jetzt erreicht haben, wenn wir geblieben wären.“
Der viertägige Aufenthalt im Banat ist schnell zu Ende, die Abschiedsfeier mit den serbischen Freunden ausgelassen. Nach den traurigen Stunden an den Massengräbern scheinen die meisten erleichtert heimzufahren. Tränen werden aber immer wieder fließen, meinen viele. Magdalena Emrich formuliert ihr persönliches Fazit so: „Vergeben kann man – vergessen nicht.“
Andreas Ellinger
Eine verkürzte Fassung dieser Reportage erschien in der Südwest Presse, auf der Seite „Im Brennpunkt“.