Das Jugendamt versagt die Hilfe
Veröffentlicht in: Berichte, Gesellschaft
Eine Schülerin lebt seit drei Monaten nicht mehr bei den Eltern – und fast ohne Geld
Der Hilfsbereitschaft mehrerer Familien hat es eine 17-Jährige zu verdanken, dass sie in den vergangenen drei Monaten ein Dach über dem Kopf und zu essen hatte. So lange lebt sie nicht mehr bei ihrer Mutter. Das Jugendamt hat die Schülerin nicht unterstützt, wie es existenziell notwendig gewesen wäre.
Horb. „Michaela (Name geändert) ist noch minderjährig.“ Das ist dem Jugendamt im Kreis Freudenstadt bewusst, wenn es darum geht eine Presse-Anfrage zur Tatenlosigkeit der Behörde abzuwehren. Die Vollmacht der 17-Jährigen, die das Amt vom Datenschutz befreien und zu Presse-Auskünften ermächtigen sollte, sei aus Altersgründen nicht rechtswirksam
Das Jugendamt hält die Schülerin aber für alt genug, um sich Monate lang ohne Geld durchschlagen und sich eine Unterkunft organisieren zu können. Genau das muss die Jugendliche seit Anfang Dezember, nachdem sie zuhause „rausgeworfen“ worden ist, wie Michaela erzählt. Ihr Mutter habe alsbald zwar gegenüber dem Jugendamt erklärt, sie könne wieder zurückkommen. Aber das will Michaela nicht: „Das geht nicht mehr. Ich hab keine Kraft mehr.“
Sie wollte schon früher zuhause ausziehen. Als Gründe nennt die Jugendliche Gewalt in der Familie sowie Alkoholmissbrauch und Depressionen der Erziehungsberechtigten. In der Folge sei sie vernachlässigt worden: Mittag- und Abendessen habe es beispielsweise nur unregelmäßig gegeben. Sich selbst etwas zu machen, sei teilweise daran gescheitert, dass keine oder zu wenig Lebensmittel im Haus gewesen seien. Und wie sah es im Kindesalter etwa mit einem Schul-Vesper aus? „Seit der zweiten Klasse mache ich alles alleine.“
Eine Freundin kann einen Teil der Vorwürfe aus eigener Wahrnehmung bestätigen. Einen Auszug habe das Jugendamt aber trotz allem nicht unterstützt, berichtet Michaela – dabei seien schon ihre älteren vier Schwestern nicht bei der Mutter aufgewachsen.
Die SÜDWEST PRESSE hat beim Jugendamt bereits vor einigen Wochen allgemein angefragt, unter welchen Bedingungen ein Jugendlicher durchsetzen könne, dass er nicht mehr bei seinen Eltern leben muss – ob beispielsweise Gewalt in der Familie ein Grund für einen Auszug sein könne, auch wenn sich die Gewalt nicht gegen den Jugendlichen richte? Die Antwort der Behörde fiel eindeutig aus: „Ja.“ An wen sich so ein Jugendlicher wenden könne? „An das Jugendamt.“
Michaela hat sich Hilfe suchend an das Jugendamt gewandt. Das Ergebnis: Knapp drei Monate nach Verlassen des Elternhauses bekommt sie noch nicht einmal das Kindergeld überwiesen – „weil Sie noch nicht volljährig sind“, hat die Familienkasse Nagold ihr geschrieben. Und: „Falls das Jugendamt für Ihren Unterhalt aufkommt, kann dieses die Abzweigung des Kindergeldes an sich beantragen.“ Aber das Jugendamt kommt in Michaelas Fall für nichts auf.
Rund zwei Monate lang zog die Schülerin von Freundin zu Freundin, ehe sie bei einer sozial engagierten Familie eine längerfristige Bleibe fand. Bis heute ist sie darauf angewiesen, dass sie von den Gasteltern mit dem täglichen Bedarf versorgt wird. Von ihrer Mutter habe sie seit Anfang Dezember nur 170 Euro bekommen, sagt Michaela. Das entspricht einem soliden Monatssatz des Kindergeldes, was über diesen Zeitraum nur ein Bruchteil dessen ist, was nach der „Hartz IV“-Gesetzgebung als Existenzminimum angesehen wird.
Welche Hilfestellungen bietet das Jugendamt, wenn ein Jugendlicher nicht mehr zuhause leben kann oder will, wollte die SÜDWEST PRESSE vor einigen Wochen schon von der Behörde wissen. Die Antwort: „Das Jugendamt berät Eltern und Jugendliche, vermittelt ambulante und/oder stationäre Hilfen, nimmt den Minderjährigen in Obhut, sofern keine andere, sinnvolle Lösung besteht.“
Eine „Lösung“ bestand für Michaela während der ersten zwei Monate immer nur für einige Tage – und zwar von ihr selbst organisiert. Was für sie im Kontakt mit dem Jugendamt ungeklärt blieb: Wie sie als Minderjährige an Geld für den täglichen Lebensunterhalt herankommen könnte?!
Nachfrage bei der Rechtsabteilung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Baden-Württemberg, in dem der Kinderschutzbund organisiert ist: Für einen Jugendlichen bestehe ein Unterhaltsanspruch gegenüber den Eltern, erklärt der Justiziar. Diesen Anspruch könne ein Jugendlicher geltend machen. Wie das geht? „Mit Hilfe des Jugendamts.“ Die Behörde könne einen so genannten Verfahrenspfleger einsetzen, der den Jugendlichen unterstütze.
Einen solchen Verfahrenspfleger hat Michaela vom Jugendamt im Kreis Freudenstadt nicht vermittelt bekommen. Stattdessen sah sich die Jugendliche sinngemäß mit dem Vorwurf konfrontiert, sie wolle nur Aufmerksamkeit erregen. Das Jugendamt habe keine Gründe gesehen, weshalb sie nicht mehr zuhause wohnen könne. Es habe geheißen, sie sei nicht gefährdet.
Die Schülerin hat den Vertrauenslehrer ihrer Schule um Hilfe gebeten. Er hat sie aufs Jugendamt begleitet. Sein Eindruck: „Das Jugendamt hat zu formal, zu vorsichtig agiert. Es hätte früher und deutlicher für Michaela Position beziehen können und ihr das auch signalisieren. Man kann nicht sagen, ,ich nehme Dich ernst‘, aber dann nichts machen.“ Selbst wenn juristische Hürden gesehen würden, „entbindet das nicht davon, aktiv zu werden“ – gegebenenfalls seien Kreativität und Mut gefordert.
Dass der Schülerin geholfen werden muss, steht für den Vertrauenslehrer fest. „Den Lehrern ist klar, da ist wirklich was dran.“ Ihm selbst sei schon früher beispielsweise ein Gedicht des Mädchens aufgefallen, dessen Inhalt bei ihm den Verdacht aufkommen ließ: „Da steckt mehr dahinter…“ Das habe sich inzwischen bestätigt Ein Studien- Schwerpunkt des Vertrauenslehrers war die Psychologie.
Der Pädagoge berichtet davon, dass die Schülerin auf dem Jugendamt zu weinen und zu zittern begonnen habe, als es um ein Gespräch mit ihrer Mutter gegangen sei. Als es zu einem Treffen auf der Behörde gekommen sei, habe sie der Mutter nicht mal die Hand gegeben. „Wenn man jemand die Hand nicht gibt, ist es weit gekommen“, meint der Vertrauenslehrer. Egal, wie sich das Jugendamt dieses Verhalten des Mädchens erkläre – die Behörden-Mitarbeiter müssten nach den Ursachen suchen: „Insofern bleibt keine Wahl – da muss man reagieren.“
Der Vertrauenslehrer betont, dass er nicht glaube, dass die Mutter ihrer Tochter etwas Böses wolle. Sie scheine überfordert zu sein. Und das Vertrauen der Tochter sei weg. „Das System läuft so weiter, wenn es keinen Impuls von außen gibt.“ Eine sofortige Rückkehr ins Elternhaus würde der Pädagoge daher für problematisch halten. „Wenn sie zurückkäme, würde sich die Mutter sagen: ,Ich hab alles im Griff.‘“ Der Vertrauenslehrer sieht eine Chance – auch für die Mutter – darin, wenn die Tochter für einige Zeit nicht mehr zuhause wohnt.
Der Lehrer schätzt die Lage übrigens so problematisch ein, dass er die Schulleitung einbezogen hat – „auch zum Selbstschutz“, wie er betont. Denn wenn etwas passiere, werde gefragt: Wer hat alles davon gewusst…? Die Leistungen der Schülerin hätten unter der belastenden Situation natürlich gelitten. Der Pädagoge betont: „Uns geht‘s auch darum, dass Michaela durch die Schule kommt. Von den Fähigkeiten her kann sie es.“
Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik
Siehe auch:
Kommentar: Ein Amt zum Verzweifeln (30.03.2009)
Kommentar: Neues Amt, neues Leben (29.08.2009)