Andreas Ellinger

JOURNALISMUS IN WORT UND BILD

Seit 1. Oktober nicht mehr krankenversichert

Veröffentlicht in: Berichte, Soziales

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Gesetzestheorie contra Lebenspraxis: Erst Hartz-los, bald lieb(e)los und schließlich obdachlos? / Eine Horberin verzweifelt

 

Wer in einer eheähnlichen „Bedarfsgemeinschaft“ lebt, hat laut „Sozialgesetz“ eheähnliche Pflichten – aber keine eheähnlichen Rechte. Wenn die Freundin lange arbeitslos ist, muss der Partner ihren Lebensunterhalt finanzieren – sie wie eine Ehefrau bei der Krankenkasse mit zu versichern, das geht hingegen nicht. Das kostet mindestens 136,50 Euro extra.

Horb. „Hartz IV“ kann zum Beziehungskiller werden. Nicht nur, weil Geld-Not schlechte Laune macht, sondern auch, weil die Liebe zu einer „Hartz IV“-Bezieherin die eigene Existenz gefährden kann. Mal wirtschaftlich statt emotional betrachtet: Wer mit seinen Schulden kämpft, kann sich keine Partnerschaft mit einer Langzeitarbeitslosen leisten. Ein Fallbeispiel:

„Die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wird mit Wirkung vom 1. Oktober 2009 aufgehoben.“ Das schrieb die Nagolder Agentur für Arbeit einer Horberin – am 5. Oktober. Damit war klar, warum das „ArbeitslosengeldII“ für diesen Monat noch nicht auf dem Konto war… Arbeitslos ist die Frau aber immer noch. Was war also passiert?

Liebesglück als Pech?

Im Monat Oktober jährte sich der Tag, an dem die Frau zur Horberin wurde, weil sie mit ihrem Freund zusammengezogen ist. Im „SozialgesetzbuchII“ steht: „Ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, wird vermutet, wenn Partner länger als ein Jahr zusammenleben.“ Unter welchen Umständen könnte diese „Vermutung“, die zur Streichung des ArbeitslosengeldesII geführt hat, verworfen werden?

Nach Aktenlage

Die Arbeits-Agentur teilte der SÜDWEST PRESSE mit: „Wichtig für die Beurteilung der Frage einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft ist nicht zuletzt ein gemeinsames Wirtschaften und Haushalten in einem Haushalt. […] Im Falle von Frau X bedeutet dies, dass die Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft nur dann möglicherweise als widerlegt gelten könnte, wenn eine räumliche Trennung vollzogen wäre. Denn selbst bei getrennten Wohnungen, aber dem überwiegenden Zusammenleben beider Partner in nur einer der Wohnungen ist unter Umständen noch von einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft auszugehen. Indizien dafür könnten beispielsweise die gemeinsame Freizeitgestaltung der Partner, gemeinsame Urlaubsreisen, gemeinsame Unterstützung bei Einkäufen und Arztbesuchen oder ähnliche gemeinsame Aktivitäten sein. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft widerlegt werden kann, wenn derartige gemeinsame Aktivitäten nicht vorliegen. Bislang wurde von Frau X das Vorliegen einer Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft allerdings nicht bestritten. Nach Aktenlage ist davon auszugehen, dass diese weiterhin (auch nach erfolgter räumlicher Trennung) besteht.“

Würde die Horberin bei ihrem Freund ausziehen, würde das allein folglich nicht reichen, um wieder „HartzIV“ zu bekommen. Wäre sie hingegen nicht eingezogen, wäre die Beziehung wohl nicht aktenkundig geworden und sie hätte weiterhin die finanzielle Zuwendung bekommen – mehr noch: auch Wohngeld und einen Heizkosten-Zuschuss. Ihre Arbeitslosigkeit wäre also für den Staat sogar teurer gewesen. Denn Wohngeld und Co. hat sie nicht bezogen, seit sie bei ihrem Freund wohnt. Die Arbeits-Agentur meint sogar, „dass keine Aufwendungen für Unterkunft und Heizung anfallen“. Und: „Demnach sind diese bei der Ermittlung des Anspruches auch nicht zu berücksichtigen.“

Wenn der Lebensgefährte der Horberin ebenfalls langzeitarbeitslos wäre, hätten die beiden einen Anspruch auf je 323 Euro „Regelleistungs-Bedarf“. Hinzu käme eine Summe von bis zu 411 Euro für Wohnung und Heizung. Das würde in der Summe 1057 Euro ergeben.

Anspruch auf Nichts

Und wie sieht die Wirklichkeit aus? Der Lebenspartner verdient rund 1500 Euro netto. Ohne die Kosten, die laut Sozialgesetzbuch abzugsfähig sind (zum Beispiel Benzinkosten für die Fahrt zur Arbeit), kam die Arbeits-Agentur in ihrer „vorläufigen Berechnung“ – zwischenzeitlich ist das Widerspruchsverfahren abgelehnt – auf ein Einkommen von 1199,70 Euro. Das liegt oberhalb der 1057 Euro an Sozialleistungen, die ein Paar bekommen könnte. Daher besteht kein Anspruch auf „Hartz IV“, Wohngeld oder Heizkosten.

Mal abgesehen davon, dass „HartzIV“-Leistungen so niedrig sind, dass die Regelsätze nach Auffassung des hessischen Landessozialgerichts weder mit der Menschenwürde, dem Gleichheitsgebot noch dem sozialen Rechtsstaat vereinbar sind… – Gesetzestheorie und Lebenspraxis weichen voneinander ab. Im Falle der Horberin ist es beispielsweise so, dass sie mit ihrem Partner in einem alten Haus lebt: Die Fassade bröckelt und im Winter kann es passieren, dass die Wasserleitung im Bad einfriert… Trotzdem sind die laufenden Kosten höher, als sie von den Behörden berücksichtigt werden.

Dann ist der Ofen aus

Die Betroffene zählt auf: 252 Euro fließen in den Haus-Kredit, 151,13 Euro in eine Lebensversicherung (die Teil der Hausfinanzierung ist), 90 Euro beträgt der Stromabschlag und 115,84 Euro gehen monatlich für einen weiteren Kredit drauf. Das ergibt 608,97 Euro – rund 200 Euro mehr als Wohngeld und Heizkosten-Pauschale (theoretisch) zusammen, obwohl das Holz für die Öfen noch nicht mal eingerechnet ist: „Wir haben noch kein Holz…“ – geheizt wird nur in der Küche.

Dass auch noch 150 Euro pro Monat beim Finanzamt abgestottert werden müssen, interessiert laut Gesetzgeber ebenfalls nicht – genauso wenig die übrigen Schulden des Lebensgefährten, die teilweise Lohnpfändungen nach sich ziehen.

„Mein Freund geht zur Schuldenberatung“, sagt die Horberin, die ihrerseits noch 100 Euro pro Monat für ihre Tochter an ihren Ex-Mann überweisen müsste… Wie ihre damalige Rechtsanwältin auf die Idee kommen konnte, einer „Hartz IV“-Empfängerin einen solchen Gerichts-Vergleich zu empfehlen, das bleibt ein Rätsel.

Fazit: Während die Horberin noch „HartzIV“ bekommen hat, hatte das Paar finanziell schon zu kämpfen – seit 1. Oktober fehlt den beiden jede Perspektive. Das belaste die Psyche und die Partnerschaft, erzählt die Frau.

In dem Schreiben der Arbeits-Agentur vom 5. Oktober hieß es außerdem: „In der Zeit, in der Sie keine Leistungen beziehen, sind Sie durch den zuständigen Leistungsträger für den Fall der Krankheit nicht versichert.“ Die Horberin ist aber regelmäßig auf ärztliche Behandlung angewiesen: „Mir wird Angst und Bange“, sagt sie.

Ein Recht als Pflicht

Die SÜDWEST PRESSE hat bei der AOK Nordschwarzwald nachgefragt, was in solch‘ einer Situation möglich ist. Kann die Horberin über ihren Freund eine kostenlose Familienversicherung abschließen? Nein, das gehe nicht, sagt Geschäftsbereichsleiter Rainer Fickert. Sie könne sich zum Mindestbeitrag von 136,50 Euro im Monat versichern. Und dieses Recht ist sogar eine Pflicht, wie der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen auf Anfrage mitgeteilt hat. Und wenn die Horberin das nicht bezahlen kann? Dann bleibe sie trotzdem krankenversichert, sagt AOK-Vertreter Rainer Fickert. Lediglich die Behandlung „aufschiebbarer Erkrankungen“ müsse von der Versicherung unter diesen Umständen nicht bezahlt werden – die Behandlung von akuten Krankheiten, die Untersuchungen während einer Schwangerschaft und die Früherkennung aber schon. Allerdings sind die nicht bezahlten Krankenkassen-Beiträge neue Schulden.

Davor graut es der Horberin momentan noch mehr als vor ihren gesundheitlichen Risiken – sie hat sich nicht pflichtversichert: „Ich schließe nichts ab, wenn ich schon vorher weiß, es stauen sich neue Schulden an“, erklärt sie – „ich kann schon wegen den bestehenden nicht zur Ruhe kommen.“

Das Leben läuft schon lange anders, als die Horberin sich das vorgestellt hat: Sie ist jung Mutter und mit Mitte 30 Oma geworden – eine Ausbildung hat sie nie gemacht. Als Bedienung verfügt sie immerhin über mehr als zehn Jahre Berufserfahrung. Und sie kocht und dekoriert gerne. Ihr Traum wäre es allerdings, ihr Talent in der digitalen Bildbearbeitung beruflich nutzen zu können. Fotos am Computer kunstvoll zu gestalten, so dass sie beispielsweise wie Gemälde wirken – das ist ihre Leidenschaft.

Heimarbeit gesucht

Was die Arbeits-Suche für die Frau in den mittleren Jahren erschwert: Sie hat keinen Führerschein – und hofft daher vor allem auf Heimarbeit. Auch Zeitungen würde sie austragen oder Putzen. Bevor sie nach Horb gezogen ist, hat sie als Ein-Euro-Jobberin in einem Tafelladen gearbeitet – den geregelten Tagesablauf hat sie sich bis heute bewahrt: Sie steht jeden Morgen mit ihrem Freund früh auf.

Was wohl passiert, wenn die existenziellen Probleme das Paar psychisch so fertig machen, dass die Beziehung daran zerbricht? Dann wird die Horberin wahrscheinlich erstmal obdachlos, weil die Arbeits-Agentur annehmen wird, dass die Frau nur auszieht, um „HartzIV“ zu bekommen.

Immerhin könnte die Obdachlosigkeit irgendwann vielleicht als Beweis anerkannt werden, dass keine „Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft“ mehr existiert. Mit dem Ergebnis, dass der Staat wieder „HartzIV“ zahlt – aber plus Wohngeld und Heizkosten.

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik

Samstag

14

November 2009

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
Horb