Andreas Ellinger

RESEARCH, ANALYSES AND REPORTING

Die Drittklässler-Diagnose

Veröffentlicht in: Bildung, Features

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Einheitlicher Test – uneinheitliche Standards

 

Die Landesregierung hat in Baden-Württemberg die Rahmenbedingungen dafür geschaffen, dass schon Drittklässler auf die Widrigkeiten des Politiker-Alltags vorbereitet werden – indem sie vor Aufgaben gestellt werden, die sie nicht lösen können. So passiert ist das den Kindern vor einer Woche in einer bundeseinheitlichen Diagnosearbeit für das Fach Mathematik.

Was nach einer Panne klingt, hat System: Die Kinder werden in Baden-Württemberg nach einem Bildungsplan unterrichtet, der für die Klassen 3 und 4 gemeinsam gilt – geprüft werden sie im Rahmen der Diagnosearbeiten aber nach dem Bildungs-Standard der Kultusminister-Konferenz, der für das Ende der vierten Klasse gilt.

Die Test-Frage für Kultusminister: Könnten die Ergebnisse der bundesweiten Drittklässler-Diagnose, die bisher mittels einheitlicher Arbeiten trotz uneinheitlicher Bildungsstandards bestimmt werden, nicht viel schneller ausgewürfelt werden…?

Die Test-Frage für Kultusminister: Könnten die Ergebnisse der bundesweiten Drittklässler-Diagnose, die bisher mittels einheitlicher Arbeiten trotz uneinheitlicher Bildungsstandards bestimmt werden, nicht viel schneller ausgewürfelt werden…?

So finden sich unter den 35 Mathe-Aufgaben mindestens 6 (einige weitere sind Grenzfälle), die sich mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung befassen. Die Wahrscheinlichkeitsrechnung kommt im Landes-Bildungsplan für diese Altersstufe aber gar nicht vor. Und dass der Standard Ende des vierten Jahres als Messlatte dient, entschuldigt das Kultusministerium damit, dass für die dritte Klasse gar kein Standard festgelegt sei.

Über Sinn und Zweck der Arbeiten schreibt die Landes-Behörde: „Die Diagnosearbeiten ,VERA 3‘ dienen dazu, den Lehrkräften eine Orientierung hinsichtlich der Umsetzung der Bildungsstandards zur ermöglichen“ – von Bildungsstandards, die für Drittklässler und ihre Lehrer in Baden-Württemberg nur teilweise gelten. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, wenn sich beispielsweise Nordstettens Grundschul-Rektor Peter Veith nach der Diagnosearbeit in Mathe über den „dermaßen hohen Text-Anteil im ersten Teil des Tests“ gewundert hat und angesichts des 15-seitigen Aufgaben-Werks zu dem Ergebnis kam: „Das war viel zu viel.“ Arbeiten über eine Distanz von zweimal 30 Minuten sind Drittklässler ohnehin nicht gewohnt – davor gab es 10 Minuten Einführung, dazwischen 10 Minuten Pause. „Schon beim Lesen“ seien manche Kinder überfordert gewesen. Peter Veith: „Das war einfach überzogen.“

Zum Vorwurf der Textlastigkeit teilt das Kultusministerium mit: „Die Lesekompetenz ist eine der wichtigsten in der Grundschulzeit zu erwerbenden Kompetenzen.“ Deshalb wurde sie offenbar nicht nur in den Deutsch-Diagnosearbeiten, sondern auch in Mathematik überprüft… Gabriele Frey aus der Fachgruppe „Grundschule“ der Gewerkschaft „Erziehung und Wissenschaft“ (GEW) sagt, dass der Mathe-Test für Migranten-Kinder sowie für Schüler mit Lese- und Rechtschreibschwäche (LRS) „absolut fürchterlich“ gewesen sei. Untere Leistungsebenen seien kaum berücksichtigt worden: „Da hatten manche keine Chance.“ Einige ihrer Kritikpunkte seien schon nach den Diagnosearbeiten des vergangenen Jahres als Verbesserungsvorschläge eingereicht worden – vergeblich, wie sich herausgestellt habe.

Das Ministerium betont: „Die eingesetzten Aufgaben werden von erfahrenen Grundschullehrkräften aus allen Bundesländern in Zusammenarbeit mit Fachdidaktikern entwickelt und in einer so genannten Normierung – Erprobung der Aufgaben im Vorfeld zu den Vergleichsarbeiten – auf ihre Tauglichkeit hin geprüft. […] Für die Tests werden qualitativ hochwertige Aufgaben ausgewählt und zu einem Test mit mittlerer Schwierigkeit zusammengesetzt.“

Da der Test-Standard aber nicht dem Standard in Baden-Württemberg entspricht, mussten Sonderregelungen her. Unter bestimmten Voraussetzungen könnten Aufgaben bei der Beurteilung außen vor gelassen werden, sagt der Bildechinger Grundschul-Rektor Gerd Wachs – benotet werde sowieso nicht. Wachs engagiert sich in der Lehrer-Fortbildung für die Tests. Was die Text-Umfänge angeht, waren die Aufgaben aus seiner Sicht noch „im Rahmen“. Eher ein Problem sei der Gesamtumfang der Arbeit. In Stuttgart gibt es darauf aber keine Hinweise: „Weder dem Kultusministerium, noch dem Landesinstitut für Schulentwicklung ist derzeit bekannt, dass die Aufgaben in der vorgegebenen Zeit nicht zu bewältigen sind.“

Dass die test-relevanten Standards der Kultusminister-Konferenz „ausführlicher“ als jene im Bildungsplan sind, das hat das Ministerium den Schulen mitgeteilt. Die SÜDWEST PRESSE hat nachgefragt: An was muss sich ein Lehrer in Baden-Württemberg dann orientieren – am Bildungsplan oder an den Standards der Minister-Konferenz? Antwort aus dem Ministerium: „Am Bildungsplan.“

Wenn ein Lehrer auf die Diagnosearbeiten hin noch kurzfristig das schult, was der höhere Standard der Kultusminister-Konferenz vorsieht, dann macht er, was konzeptionell gar nicht erwünscht ist: „Eine gezielte inhaltliche Vorbereitung von Schülern ist weder notwendig noch sinnvoll. VERA soll nicht kurzfristige Übungseffekte, sondern langfristig angelegte Kompetenzen überprüfen. Mit der Einführung von Bildungsstandards rückt der Prozess des Kompetenzerwerbs in den Mittelpunkt des Unterrichts. Ein Aufbau von Kompetenzen erfolgt nicht über eine enge Vorbereitung auf Tests, sondern durch einen Unterricht, der auf Einstellungen, Fähigkeiten und Kenntnisse angelegt ist.“

Trotzdem hat das Kultusministerium den Schulen zu Jahres-Beginn die Themenbereiche mitgeteilt, die in den Diagnosearbeiten drankommen werden. Ist das nicht ein Widerspruch? Diese Information sei ein Kompromiss gewesen, heißt es aus der zuständigen Fachabteilung etwas verlegen. „Wir haben Respekt vor den Schulen, die da nicht reinschauen.“

Fazit: In den Diagnosearbeiten soll der Bildungsstand von Drittklässlern bundesweit einheitlich erhoben werden, obwohl die Bildungs-Standards gar nicht einheitlich, sondern Ländersache sind. In Form von Lehrer-Fortbildung, Aufgaben-Erprobung und Co. kostet das einigen Aufwand. Ob er sich angesichts der Aussagekraft der Ergebnisse auszahlt…?

Folgender Vorschlag drängt sich auf: Entweder die Tests werden den Bildungs-Standards der Bundesländer angepasst oder der Bildungs-Standard wird bundeseinheitlich festgelegt. Es stellt sich ohnehin die Frage: Gibt es – außer dem Machtbewusstsein der Landesregierungen – Gründe, warum Drittklässler in Baden-Württemberg etwas anderes lernen sollten als in Nordrhein-Westfalen oder Sachsen?

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik

Samstag

15

Mai 2010

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
Horb