Lehrerstunden, die niemand braucht
Veröffentlicht in: Berichte, Bildung
Schule in Haigerloch seit Jahren überversorgt
Lehrerstunden im Wert von rund 120 000 Euro hat ein Rektor beantragt und erhalten, obwohl sie seiner Schule nicht zustanden. Das Kultusministerium in Stuttgart wiegelt ab: Es sei kein Schaden entstanden.
Pause an der Haigerlocher Witthauschule: Nach Angaben des Schulleiters gibt es hier nur Ganztagsschüler. Das Schulamt macht eine andere Rechnung auf. Foto: Andreas Ellinger
Die Witthauschule Haigerloch im Zollernalbkreis hatte den Ruf einer Reformschule. Im Jahr 2007 wurde sie beim Wettbewerb „365 Orte im Land der Ideen“ ausgezeichnet. Den Preis hatten Bundesregierung und Bundesverband der Deutschen Industrie ausgeschrieben. „Die Grundschule hat die Jury durch ihr innovatives Ganztagsschulkonzept überzeugt“, erklärte der damalige Kultusminister Helmut Rau. Er feierte die einzige Gewinner-Schule aus dem Südwesten als „gutes Beispiel für zukunftsorientierte Bildungsmodelle“. Weiter hieß es in seiner schriftlichen Laudatio: „Die Schule setzt auf eine Rhythmisierung des Unterrichts.“
Drei Jahre später liest sich das anders. Das Kultusministerium teilt mit: „An der Witthauschule findet der Unterricht nur am Vormittag, das heißt ohne Rhythmisierung, statt.“ Die Schule halte damit einen „wesentlichen Bestandteil“ des Landes-Ganztagsschulkonzeptes nicht ein. „Zum anderen werden die Voraussetzungen zur Größe der Ganztagsklassen nur von einer Klasse erfüllt, die Schule erhält jedoch für acht Klassen zusätzliche Lehrerwochenstunden.“
Nach Auskunft des Schulamtes Albstadt gibt es – gemäß der Landes-Definition – nur 22 Ganztagsschüler. Weitere 86 Kinder nutzen die Nachmittags-Angebote nur an ein oder zwei Tage, sie gelten daher nicht als Ganztagsschüler. In den vergangenen zwei Schuljahren war das Zahlenverhältnis nach Auskunft des Schulamts ähnlich. Trotzdem hat Witthau-Rektor Harald Schempp in den drei Jahren zusätzliche Lehrerwochenstunden für 8 Ganztagesklassen bezogen: 32 Stück. Zugestanden hätten ihm 4.
Aufgeflogen ist das durch Zufall – Das Regierungspräsidium Tübingen hatte vergangenen Sommer einen Hinweis erhalten. Die Behörde teilt mit, dass zum 1. November 2009 eine Überprüfung angestanden hätte: „Spätestens zu diesem Zeitpunkt wäre dann erkannt worden, dass der Ganztagsbetrieb an der Witthauschule nicht entsprechend dem Landesprogramm umgesetzt wird.“ An dem Umstand, dass drei Jahre lang 28 Lehrerwochenstunden regelwidrig eingesetzt wurden, hätte das nichts geändert. Das Schulamt erklärt: „Die Stundenzuweisung erfolgte in den drei Schuljahren auf der Grundlage der von der Schulleitung der Witthauschule gemeldeten Schülerzahlen für die Ganztagsschule.“ Das Kultusministerium ergänzt: Die Lehrerbedarfsmeldung eines Rektors werde „in der Regel nicht weiter durch die Schulverwaltung geprüft“.
Die Stunden-Zuweisung entsprach acht Ganztagsklassen. Dabei gab es bis zuletzt rund 80 Schüler, die an keinem Tag für den Ganztagsbetrieb angemeldet waren. Arbeitsgemeinschaften wurden den Kindern nicht angeboten. Wer von ihnen eine einzelne AG der Ganztagsschule besuchen wollte, durfte das nicht.
Dafür gab und gibt es für alle Kinder von Montag bis Donnerstag Hausaufgabenbetreuung. Denn die steht im Ganztagsbetrieb täglich auf dem Stundenplan. Am Freitag vor einer Projektwoche bekommen daher alle Schüler so viele Hausaufgaben aufgebrummt, dass die Betreuung während der Projektwoche ausgefüllt ist. Dieses Ganztagskonzept hat das Schulamt als „pädagogisch vorbildlich“ bewertet.
Was ist dem Land für ein Schaden entstanden? „Die Kosten der zusätzlichen Lehrerwochenstunden können nicht beziffert werden, da sich die Kosten einer Lehrerwochenstunde individuell auf die einzelne Lehrkraft beziehen“, erklärt das Kultusministerium. Es fügt hinzu: „Eine Rückzahlung des Gegenwerts der zu viel gewährten Lehrerwochenstunden erfolgt nicht.“
Können die Lehrerstunden nicht bewertet werden? Die SÜDWEST PRESSE wollte Kultusministerin Marion Schick fragen, warum der Schaden weder berechnet noch von den Verantwortlichen zurückgefordert wird. Ihre Pressestelle ging auf das Ansinnen gar nicht ein und teilte mit: „Ein monetärer Schaden ist nicht entstanden. Allenfalls könnte man davon sprechen, dass die vom Landtag zur Verfügung gestellten Ressourcen nicht so auf die einzelnen Schulen verteilt wurden, wie es die Konzepte des Kultusministeriums vorsahen. Grundsätzlich kann die zuständige Schulaufsichtsbehörde im Rahmen ihres zugewiesenen Pools zusätzliche Lehrerwochenstunden an eine Schule geben, um dort etwa zusätzliche ergänzende Angebote zu ermöglichen.“
Das Schulamt Albstadt hatte die Haigerlocher Ganztagsschule aber nicht mit solchen Pool-Stunden versorgt, sondern mit Lehrerstunden aus einem Extra-Topf des Landes. Das geht aus einer Stellungnahme der Behörde hervor. Auf diesen Widerspruch hingewiesen, verweigerte das Kultusministerium eine schriftliche Auskunft – die erneute Bitte um eine Stellungnahme der Ministerin wurde wieder ignoriert.
Welche Kosten sind also für das Land angefallen, die laut Ministerium keinen Schaden darstellen? Es geht um 28 Lehrerwochenstunden. Sie verteilen sich auf mehrere Lehrkräfte, die nach der Besoldungsgruppe A 12 bezahlt werden. Nimmt man in der Dienstjahre-Staffelung einen Mittelwert so ergibt sich eine jährliche Gehaltssumme von mehr als 40 000 Euro – etwaige Kinder der Lehrkräfte, die sich gehaltssteigernd auswirken, nicht einkalkuliert. Über drei Jahre hinweg sind Kosten von mehr als 120 000 Euro entstanden, die regelwidrig beantragt und gewährt wurden.
Das Finanzministerium des Landes, das sich mit Schulden von mehr als 40 Milliarden Euro konfrontiert sieht, wollte den Vorgang im Bildungsressort nicht kommentieren: „Bezüglich Ihrer Anfrage verweisen wir auf das Kultusministerium, das hier zuständig ist.“ Dieses begnügt sich bei der Schadensbewältigung mit der Zukunft: „In der Lehrerbedarfsmeldung zum Schuljahr 2010/11 ist die Witthauschule mit einer zusätzlichen Zuweisung für eine Ganztagsklasse berücksichtigt. Sofern die Schule in den darauf folgenden Schuljahren die Anforderungen des Ganztagsschul-Konzepts erfüllt, können für weitere Ganztagsschulklassen Lehrerwochenstunden gewährt werden.“
Harald Schempp, Rektor der Witthauschule, der in Teilzeit für das Kultusministerium arbeitet, wollte von dieser Vorgabe nichts wissen. Den Eltern hat er in einem Rundbrief vorgeschlagen, dass nach den Sommerferien alle Kinder die Ganztagsschule nutzen – wobei der Unterricht dann auf die Vor- und Nachmittage verteilt sein soll. Die Eltern konnten ankreuzen:“Ich unterstütze dieses Konzept für mehr Bildungsqualität für alle Kinder.“ Oder: „Ich bin nicht mit dem neuen Konzept einverstanden.“
Der neue Albstädter Schulamtsleiter Gernot Schultheiß, der die Haigerlocher Problematik als Altlast übernommen hat, ist über diese Form der Elternumfrage nicht glücklich. Das Kultusministerium hat zwischenzeitlich das Schulamt und das Regierungspräsidium „nochmals eingehend gebeten, dafür Sorge zu tragen“, dass der Elternbedarf an einem Ganztagsbetrieb „objektiv und umfassend“ erhoben wird. Auf Geheiß des Schulamts musste der Rektor beim jüngsten Elternabend die „flexible Nachmittagsbetreuung“ als Alternative zur Ganztagsschule vorstellen. In seinem Rundschreiben hatte er noch behauptet, es gebe keine Alternative.
Schulleiter Schempp irritiert dies alles kaum. Den Eltern hat er verkündet, dass er fürs nächste Schuljahr den Bedarf an Lehrerstunden wie bisher gemeldet habe und damit rechne, „dass es so weitergeht“. Dass laut Kultusministerium nur noch eine Ganztagsklasse versorgt werden soll, ficht ihn nicht an: „Da sehe ich eigentlich kein Problem, zumal auch die Zuweisung von Pool-Stunden des Schulamtes in dieser Form möglich ist.“
Andreas Ellinger, Südwest Presse, Politik, Im Brennpunkt