Behörden als Wegbereiter des Terrors
Veröffentlicht in: Berichte, Politik
Ein Bericht des ehemaligen Bundesanwalts Bruno Jost legt nahe: Baden-Württemberger Sicherheits- und Justizbehörden hätten das Attentat des Islamisten Anis Amri auf dem Berliner Breitscheidplatz verhindern können.
„Die Möglichkeit einer schnellen und problemlosen strafgerichtlichen Verurteilung Amris, aus meiner Sicht sogar die realistische Chance eines Haftbefehls, hätte es wegen der in Friedrichshafen begangenen Delikte gegeben.“ Das hat der ehemalige Bundesanwalt Bruno Jost als Sonderbeauftragter des Senats von Berlin festgestellt. Und weiter: „Dass dieser Weg nicht gewählt wurde, beruht auf der Entscheidung der örtlich zuständigen Staatsanwaltschaft Ravensburg und unterliegt deshalb nicht meiner Prüfung.“ Viel deutlicher kann ein Berliner Sonderbeauftragter einen Untersuchungsauftrag für den Landtag in Stuttgart wohl nicht formulieren.
Der Abschlussbericht des Sonderbeauftragten über das Berliner Behördenhandeln im Fall „Amri“ erinnert optisch an die Behördenunterlagen des Baden-Württembergischen NSU-Untersuchungsausschusses: Das Dokument ist umfangreich geschwärzt, zwei Kapitel sogar vollständig. Dem Bericht ist es buchstäblich anzusehen, dass es der ehemalige Bundesanwalt Jost mit den Sicherheits- und Justizbehörden nicht leicht hatte.
Die Staatsanwaltschaft Ravensburg war diesbezüglich keine positive Ausnahme. Sie hat Josts Akteneinsichtsersuchen anfangs abgelehnt, wie der Sonderbeauftragte schreibt, ihm dann aber schließlich doch noch „einen Satz Kopien aus den Akten übersandt“. Die Auswertung dieser Kopien deute jedoch darauf hin, „dass diese – trotz fortlaufender Paginierung – möglicherweise nicht vollständig sind.“
Die freiwillige Ausreise von Anis Amri verhindert
Um was geht es? „Ende Juli 2016 versuchte Amri, Deutschland in Richtung Italien und möglicherweise weiter nach Tunesien zu verlassen.“ Das teilte die Bundesregierung am 27. Januar 2017 den Bundestags-Grünen mit. Doch die Bundespolizei hat den späteren Attentäter am 30. Juli 2016 in Friedrichshafen festgenommen – und damit faktisch seine freiwillige Ausreise verhindert, obwohl er aufgrund einer Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ausreisepflichtig war. Amri ist laut dem Sonderbeauftragten zu diesem Zeitpunkt wie folgt im Polizei-Informationssystem INPOL ausgeschrieben gewesen: „Person ist dem islamistischen Spektrum zuzuordnen, mutmaßlicher Bezug zum IS, intensive Kontrolle der Person, mitgeführter Gegenstände und Begleiter, Feststellung der Reiseroute.“
Die Reise war für Amri erst einmal zu Ende. Die Bundespolizei überstellte ihn an das Polizeirevier Friedrichshafen des Polizeipräsidiums Konstanz, wie Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) am 31. Januar 2017 der Landtags-SPD schrieb. Die Bundespolizei habe dabei die Ergebnisse der Personenkontrolle Amris mitgeteilt: „Verdacht auf Urkundenfälschung, des Verschaffens falscher amtlicher Ausweise, des unerlaubten Betäubungsmittelbesitzes, des unerlaubten Aufenthalts ohne Aufenthaltstitel und des unerlaubten Aufenthalts ohne Pass/Passersatz.“Amri kam daraufhin in Haft: Nicht wegen der Urkundendelikte, sondern nur aus aufenthaltsrechtlichen Gründen – „zur Sicherung der Abschiebung“, wie der Berliner Sonderbeauftragte in seinem Abschlussbericht fast schon sarkastisch anmerkt.
Bis zu Amris Freilassung am 1. August 2016 waren nach Josts Recherchen neben der örtlichen Bundespolizei und der Landespolizei Baden-Württemberg auch die Landeskriminalämter Berlin und Nordrhein-Westfalen, wo sich Amri in den Vormonaten aufgehalten hatte, „fortlaufend eingebunden“. Die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft Ravensburg und die Generalstaatsanwaltschaft Berlin, die sich schon einige Zeit mit Amri beschäftigte, seien „kontinuierlich informiert“ gewesen. Außerdem gibt es laut Jost Anhaltspunkte dafür, dass auch das Staatsschutzdezernat der Polizeidirektion Friedrichshafen sowie das Landeskriminalamt Baden-Württemberg „beteiligt waren beziehungsweise Kenntnis hatten“.
Handwerkliche Fehler trotz „geballter Kompetenz“
Das Urteil des ehemaligen Bundesanwalts fällt vernichtend aus: „Obwohl angesichts der geballten Kompetenz der beteiligten Stellen keine Zweifel an der Person und an der Bedeutung des Festgenommenen Amri bestehen konnten, weist die Sachbehandlung des Falles nach Aktenlage eine Reihe unterschiedlich schwerer handwerklicher Fehler auf.“ Es sei beispielsweise „nicht versucht oder auch nur erwogen“ worden, „gegen Amri wegen seiner aktuell begangenen Straftaten einen Haftbefehl zu erwirken“. Laut Jost wäre das „angesichts der seit längerem laufenden Versuche, ihn aus Deutschland abzuschieben, dringend geboten und auch möglich gewesen“.
Jost kritisiert unter anderem die „Behandlung der sichergestellten Gegenstände“ als „wenig professionell“. So sei das Handy von Amri weder ausgewertet noch dauerhaft sichergestellt worden. Ein bei Amri aufgefundenes Schriftstück mit arabischen Schriftzeichen sei nicht übersetzt worden. In einer Vernehmung am 30. Juli 2016 sei Amri nicht gefragt worden, wann und auf welche Weise er an gefälschte italienische Ausweispapiere gekommen ist. Nicht einmal nach seinem aktuellen Wohnort oder seinem letzten Aufenthaltsort hätten sich die Ermittler erkundigt. Stattdessen wurde er am 1. August 2016 freigelassen, obwohl Fluchtgefahr ein klassischer Haftgrund ist. Die Gefahr trat ein: „Wegen unbekannten Aufenthalts“ stellte die Staatsanwaltschaft Ravensburg das Verfahren gegen ihn „ohne weitere Ermittlungen“ bereits am 7. September 2016 vorläufig ein, wie Bruno Jost vermerkt.
Zum Vergleich: Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl hatte am 26. April 2017 dem Innenausschuss des Landtags mitgeteilt, „dass im Fall Anis Amri in keinem einzigen Punkt irgendein Fehlverhalten baden-württembergischer Beamtinnen, Beamter oder Behörden erkennbar geworden sei“. Und weiter: „Wenn Fehler gemacht worden seien, müsste der Blick auf andere Behörden gerichtet werden.“
Wie ein Terrorist von seiner Freilassung überrascht wurde
Bei der Auswertung abgehörter Telefonate stellt der Sonderbeauftragte Jost fest, dass die Freilassung Amris „zur Überraschung aller“ am 1. August 2016 nicht nur beim Betroffenen, sondern auch bei seinen Kontaktpersonen Euphorie auslöste: „Die Tatsache, dass er trotz seiner Straftaten, der Verwendung verschiedener Identitäten und der Nutzung gefälschter Ausweise wieder freigelassen wird, stellt, rückblickend gesehen, nicht nur für die Sicherheitsbehörden, sondern auch für Amri ein Schlüsselmoment dar. In den folgenden Gesprächen kommt bei ihm neben extremen Hoch- und Überlegenheitsgefühlen auch eine gesteigerte Religiosität zum Ausdruck.“
Die Haftentlassung Amris in Baden-Württemberg, teilte Innenminister Strobl im Februar 2017 mit, „erfolgte auf Anordnung der zuständigen Ausländerbehörde Kleve in Nordrhein-Westfalen“. Demnach habe die Abschiebung „nicht innerhalb des möglichen Anordnungszeitraums“ vollzogen werden können: Der Islamist, den die Polizei als „Gefährder“ eingestuft hatte, verfügte über keine gültigen Ausweisdokumente.
Wäre Baden-Württemberg für die Abschiebung zuständig gewesen?
Abweichend davon kommt Jost zu dem Ergebnis, dass nicht Nordrhein-Westfalen, sondern Baden-Württemberg für die Abschiebung Amris zuständig gewesen wäre. Denn zuständig sei das Bundesland, dem ein Flüchtling bei der „Erstverteilung“ nach dem System „Erstaufnahme Asyl“ (EASY) des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zugewiesen werde.
Jost erläutert: „Bisher wurde einhellig davon ausgegangen, dass Amri sich – nach seiner Einreise in Deutschland über Freiburg Anfang Juli 2015 – am 28. Juli 2015 in Berlin als Asylsuchender gemeldet habe und erstmals dort mit dem EASY-Verfahren nach Nordrhein-Westfalen als zuständigem Land verwiesen worden sei.“ Doch das treffe nach seinen Untersuchungen nicht zu. „Sicher ist, dass die EASY-Zuweisung in Ellwangen vom 22. Juli 2015“ – Amri wurde nach Karlsruhe geschickt – „als Erstverteilung bindend war und bei ihrem Bekanntwerden alle späteren Zuweisungen gegenstandslos gemacht hätte. Hieraus folgt, dass letztlich auch für die spätere Abschiebung Amris Baden-Württemberg zuständig war beziehungsweise gewesen wäre.“ Es sei nicht nachvollziehbar, „dass das beschriebene Geschehen bisher niemandem aufgefallen ist“.
Das Fazit des Berliner Sonderbeauftragten: „Die Behandlung des Ausreiseversuchs Amris vom 29. Juli 2016 ist geradezu das Paradebeispiel einer in jeder Hinsicht misslungenen Aktion. Weder die fortlaufende und unmittelbare Unterrichtung der Fachdienststellen der Polizei noch die frühzeitige Einbindung von Staatsanwaltschaften und der zuständigen Ausländerbehörde führten zu der notwendigen und möglichen Abstimmung des Vorgehens. Damit wurde die Chance vertan, Erkenntnisse zu erlangen und Beweismittel zu sichern, die im Verbund mit dem ohnehin vorliegenden Wissen über Amri zu einer beschleunigten Abschiebung beziehungsweise einem baldigen Haftbefehl hätten beitragen können.“ Als Reaktion auf den Bericht forderte die SPD-Fraktion im Landtag eine schonungslose Aufklärung über die Behördenfehler. „Strobl und Wolf müssen im Fall Amri aufklären und nicht immer den Blick nur auf andere richten“, sagte Fraktionsvize Sascha Binder.
Überhaupt schildert Jost chaotische Zustände im Bereich der Flüchtlingsregistrierung. Kriminelle wie Amri, der mit mindestens acht Identitäten operiert haben soll, wussten das zu nutzen. Während der spätere Attentäter bei seiner Ersterfassung am 6. Juli 2015 in Freiburg ordnungsgemäß erkennungsdienstlich behandelt und die Daten ins System eingestellt wurden, war das später beispielsweise in Berlin nicht mehr der Fall. Wenn dort überhaupt eine erkennungsdienstliche Behandlung stattgefunden habe, berichtet der Sonderbeauftragte, „dann häufig fehlerhaft oder unvollständig“. Statt Fingerabdrücke mit der gebotenen Eile dem Bundeskriminalamt und dem Ausländerzentralregister zuzuführen, hätten sie teilweise „wochenlang in Waschkörben in einer Ecke gelegen“. Man habe darauf vertraut, dass die nächste mit dem Asylsuchenden befasste Stelle das Versäumte nachholen oder Fehler berichtigen würde. Das hat offensichtlich nicht funktioniert.
Abgesehen von den vielen Beispielen für kleinere und größere Fehlleistungen der Behörden sind im Abschlussbericht des Sonderbeauftragten zwei Kernprobleme dargestellt. Erstens: Die Sicherheitsbehörden haben vorhandene Erkenntnisse über Anis Amri nicht oder nur unzureichend ausgewertet und analysiert. Zweitens: Die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheits- und Justizbehörden in Deutschland war vielfach mangelhaft.
Sogar das „Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum“ der Polizeibehörden und Nachrichtendienste in Deutschland hat versagt. In dessen Arbeitsgruppe „Operativer Informationsaustausch“ war Amri vom 4. Februar bis zum 2. November 2016 sieben Mal Thema. Im Protokoll der letzten Sitzung heißt es: „Zwischen den Teilnehmern besteht Einigkeit, dass auf Grundlage der vorliegenden Erkenntnisse kein konkreter Gefährdungssachverhalt erkennbar ist.“ Rund eineinhalb Monate später hat Amri zwölf Menschen umgebracht.
Defizite seit NSU-Aufklärung bekannt – aber nichts passiert
Die von Bruno Jost festgestellten Defizite sind nicht neu. Bei den Aufklärungsversuchen rund um die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) war ebenfalls festgestellt worden, dass die Erkenntnisse verschiedener Sicherheitsbehörden nicht ausreichend ausgewertet und nicht zusammengeführt worden sind. Wäre es anders gelaufen, hätte beispielsweise im Sommer 1998 ermittelt werden können, dass die Stadt Chemnitz dem untergetauchten Neonazi-Trio als Aufenthaltsort dient.
Die Selbstenttarnung der Rechtsterroristen lag zum Zeitpunkt von Amris Anschlag bereits fünf Jahre zurück. Die verantwortlichen Politiker müssen sich fragen lassen, was sie in dieser Zeit unternommen haben, um die Arbeit der Sicherheitsbehörden grundlegend zu verbessern. Doch die Landtags- und Bundestagsabgeordneten in den NSU-Untersuchungsausschüssen wissen selbst am besten, wie sie sich entschieden haben – wenn sie die Wahl hatten zwischen der Fraktions- oder Koalitionsräson auf der einen Seite sowie einer schonungslosen NSU-Aufarbeitung auf der anderen Seite.
Eine nachhaltige Rechtsterrorismus-Aufklärung würde zwangsläufig den Kampf gegen den Terrorismus insgesamt verbessern, weil es auf eine wirkungsvolle Arbeit derselben Sicherheits- und Justizbehörden ankommt. Wären aus dem Staatsversagen bezüglich des NSU die notwendigen Konsequenzen gezogen worden, wäre Anis Amri wahrscheinlich vor seinem Lastwagen-Anschlag aus dem Verkehr gezogen worden – dann wären seine zwölf Opfer heute noch am Leben.
Andreas Ellinger
Eine Version dieses Textes erschien in Kontext:Wochenzeitung, 18.10.2017