Andreas Ellinger

JOURNALISMUS IN WORT UND BILD

Der Tod als Meister aus Oberndorf

Veröffentlicht in: Politik, Rezensionen

Print Friendly, PDF & Email

Jürgen Grässlin erzählt „Die wahre Geschichte von Samiira, Hayrettin und einem deutschen Gewehr“

 

Die Firma „Heckler & Koch“ ist nahe, die Opfer ihrer Tod bringenden Produkte sind fern. Der ehemalige Sulzer Jürgen Grässlin stellt in seinen neuen Buch Menschen vor, die unter dem Einsatz Oberndorfer Waffen-Technik gelitten haben – die somalische Frauenrechtlerin Samiira Elmi und den kurdischen Lehrer Hayrettin Altun.

Sulz/Freiburg. „Was geht uns das Schicksal dieser liebenswerten Menschen an, die Tausende von Kilometern entfernt von uns in Somaliland und Kurdistan aufgewachsen sind? Ihre Heimatländer tauchen in keinem Atlas und auf keiner Wandkarte auf, denn es gibt sie nicht, zumindest nicht als anerkannte Staaten.“ (Jürgen Grässlin im Vorwort seines Buches „Versteck dich, wenn sie schießen“)

Jürgen Grässlin (im Bild) geboren 1957, hat sich mit seinen Biographien über die Auto-Konzern-Chefs Jürgen Schrempp (Daimler-Chrysler) und Ferdinand Piech (Volkswagen) sowie mit Büchern über Bundeswehr und Rüstungsindustrie international einen Namen gemacht. Er ist Mitbegründer des Rüstungs-Informations- Büros (RIB), Sprecher des Deutschen Aktionsnetzes Kleinwaffen Stoppen (DAKS) und der Deutschen Friedensgesellschaft, Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK). Laut Nachrichten-Magazin „Der Spiegel“ ist der Freiburger „Deutschlands wohl prominentester Rüstungsgegner“. In den 80er-Jahren war Grässlin Lehrer an der Sulzer Realschule. Damals hat er sich im Sulzer Friedensforum engagiert und das Rüstungs-Informations-Büro Oberndorf (RIO) mitgegründet. Bild: A. Ellinger

Buchautor Jürgen Grässlin bei einer Demonstration in Oberndorf.
Bild: A. Ellinger

Es gibt beinahe so viele Sturmgewehre des Typs G3 wie Einwohner in Baden-Württemberg – fast zehn Millionen. Die Zahl hat Jürgen Grässlin vom Kinderhilfswerk der Vereinen Nationen (Unicef). „Heckler & Koch“ (H&K) hat das G3 entwickelt. Hinzu kommen Maschinenpistolen vom Typ MP5 und Maschinengewehre aus der Oberndorfer Waffenschmiede sowie Weiterentwicklungen des G3. Acht Prozent aller Gewehre weltweit seien „Heckler & Koch“-Waffen, schreibt Grässlin und hält fest: „Weltweit sterben doppelt so viel Menschen durch Kugeln aus Gewehrläufen wie durch alle anderen Waffenarten zusammen.“ In seinem Buch präsentiert er eine Rechnung, deren Ergebnis lautet: „Alle vierzehn Minuten wird ein Mensch von einer Kugel aus dem Lauf eines G3 oder einer MP5 erschossen.“ Welches Leid sich hinter diesen Zahlen verbirgt, erzählt er in der „wahren Geschichte von Samiira, Hayrettin und einem deutschen Gewehr“.

Samiira Elmi ist eine 28-jährige Somalierin, die in ihrer Heimat für einen Dachverband von Frauen-Organisationen arbeitet. Als sie sechs Jahre alt war, brach in Somalia der Bürgerkrieg aus. Als sie 13 Jahre alt war, versuchte sie, mit ihren sechs Geschwistern und ihrer Mutter den mordenden Soldaten zu entkommen – der Vater war bereits im Ausland. Die ein- bis 15-jährigen Kinder mussten nach wenigen Kilometern allein weiter fliehen, weil Soldaten des Diktators Siad Barre ihre Mutter exekutierten. Soldaten eines Verbrecher-Regimes, das unter anderem aus Deutschland mit Waffen beliefert wurde. Wie Hohn klingt die Aussage des Kanzleramtes von Helmut Schmidt, die Grässlin in seinem Buch veröffentlicht: „Die Einhaltung der Menschenrechte stellt kein ausschlaggebendes Kriterium für die Genehmigung beziehungsweise Verweigerung von Exportgenehmigungen dar.“ SPD und CDU geführte Bundesregierungen haben über den Rüstungsexport hinaus so genannte G3-Lizenzen an Länder wie den Iran, die Türkei und Pakistan vergeben, von denen die Waffe teilweise weiter verbreitet wurde.

Jürgen Grässlin beschränkt sich nicht auf die Schicksalsschläge im Leben der Samiira Elmi. Er schildert, wie das Mädchen – somalischen Umständen entsprechend – zunächst eine unbeschwerte Kindheit erlebte, wie wissbegierig es in der Schule lernte, wie ausgelassen die Familie Feste feierte und welchen Traditionen das Leben in Somaliland bestimmten. Der Krieg veränderte alles. Samiira erlebte und überlebte die Jahre auf der Flucht und in Lagern, den Mangel an allem und die psychische Belastung. Die Soldaten Siad Barres, die unter anderem mit G3 bewaffnet waren, haben ihr fast alles genommen: ihre Mutter, ihr Elternhaus und zeitweise ihren Vater, der von seiner Familie getrennt im Exil lebte, weil er den Militärdienst verweigert hatte. Aber den Lebensmut hat sich die jugendliche Samiira von den Mördern und Zerstörern nicht nehmen lassen.

Die Autor berichtet, welche Träume und Wünsche Samiira hat und wie sie versucht, ihren Lebensweg weiter zu gehen. Auf dem Stück, das Jürgen Grässlin mit ihr gegangen ist, hat er viele Kriegsopfer kennen gelernt. Zum Beispiel ehemalige Kämpfer, die durch den Krieg drogenabhängig und traumatisiert wurden. Manche haben Aggressions-Ausbrüche, die leicht in Amok-Läufen münden. Ihre Familienangehörigen wissen sich nicht anders zu helfen, als die Männer festzuketten – Tag und Nacht. Grässlin sprach mit einem somalischen Waffenhändler und ehemaligen Kämpfern beider Seiten gleichermaßen wie mit einem Traktorfahrer, der gezwungen wurde, Massengräber zu füllen. Er berichtete Grässlin von verbluteten Kindern, denen Soldaten die Arterien aufgeschnitten hatten, um verwundete Krieger mit Blut zu versorgen. Grässlin traf auch einen Mann, den ein anderer mit einem G3 zum Krüppel geschossen hat.

Der mörderische Einsatz von Kleinwaffen wie dem G3 verbindet das Schicksal von Samiira Elmi und dem Kurden Hayrettin Altun. Auch seine Lebensgeschichte erzählt Grässlin – wie Hayrettin in Türkisch-Kurdistan aufgewachsen ist, wie er in der Ausbildung zum Lehrer gedemütigt wurde und wie ihn Soldaten terrorisiert haben. 18 Monate lang haben ihn so genannte türkische Sicherheitskräfte in Gefängnissen gefoltert. Sie haben ihn beispielsweise ins Klo gestoßen, mit hunderten Stockschlägen auf die Hand gequält und mit den Armen auf dem Rücken an der Decke aufgehängt. Die Wachmänner waren mit G3 bewaffnet, mit dessen Schaft sie Hayrettin in einer Prügel-Orgie traktiert haben, bis er am ganzen Körper fast schwarz vor Blutergüssen war. Vor Gericht wurde er schließlich freigesprochen. Er hatte keine verbotene Kurden-Fahne gehisst.

Das türkische Militär hat Häuser von Hayrettins Heimatdorf zerstört und Verwandte von ihm umgebracht. Die Armee setzte Gewehre und Panzer ein, die sie aus Deutschland bekommen hat. Als Jürgen Grässlin mit Hayrettin unterwegs war, haben türkische Sicherheitskräfte sie ständig überwacht. Brechen konnten sie den Willen des Lehrers nicht. Weil Hayrettin Altun dem Autor seine Geschichte erzählt hat, riskiert er neuerliche Verhöre, Folter und Haft.

Jürgen Grässlin weist in seinem Buch auf die Menschenrechts-Verletzungen von türkischen Soldaten wie von kurdischen PKK-Kämpfern hin. Er hat mit Tätern gesprochen, die zu Opfern wurden – ehemalige türkische Soldaten, die von ihren Einsätzen in Kurdistan traumatisiert zurückgekehrt sind. Einer sagte, er würde sich umbringen, wenn er noch einmal den Befehl bekäme, im Südosten der Türkei zu kämpfen.

Kritik an Waffenexport

Der Autor erzählt die Biografien von Hayrettin Altun und Samiira Elmi vor dem Hintergrund politischer und historischer Entwicklungen. Er benennt die Schuldigen des Leids – unter anderem deutsche Waffenhersteller und Politiker, die Rüstungsexporte oder Waffen-Produktionen in Lizenz ermöglicht haben. „Bis heute hat niemand die H&K-Firmengründer Heckler, Koch und Seidel oder ihre Nachfolger in der Geschäftsleitung zur Verantwortung gezogen“, kritisiert Grässlin. „Statt dessen entwickeln und exportieren die Oberndorfer Rüstungsproduzenten neue Generationen von Handfeuerwaffen, die in den kommenden Jahrzehnten unglaubliches Leid über die Menschen bringen werden.“ H&K ist beispielsweise an der Entwicklung der so genannten OICW beteiligt, mit der die US-Army ausgerüstet werden soll. Die Waffe schießt mit 5.56-Millimeter-NATO-Munition und mit 20-Millimeter-Sprenggranaten. Der Granatwerfer soll auf 500 Meter punktgenau treffen. Jürgen Grässlin nennt die OICW „die universelle Mordmaschine für die Kriege der Zukunft“.

„In der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts starben mehr als 1,51 Millionen Menschen durch Kugeln aus einer H&K-Waffe, in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends mussten Abertausende weiterer Gräber ausgehoben werden. Bis heute gibt es Hunderttausende körperlich verstümmelter und geistig traumatisierter Menschen, die mehr dahinvegetieren, als dass sie ein menschenwürdiges Leben führen. Sie haben den Beschuss mit G3-Schnellfeuergewehren oder MP5-Maschinenpistolen überlebt.“

INFO: „Versteck dich, wenn sie schießen“, Droemersche Verlagsanstalt, ISBN 3-426-27266-0, 352 Seiten, 22,90 Euro.

 

Über den Autor

Jürgen Grässlin geboren 1957, hat sich mit seinen Biographien über die Auto-Konzern-Chefs Jürgen Schrempp (Daimler-Chrysler) und Ferdinand Piech (Volkswagen) sowie mit Büchern über Bundeswehr und Rüstungsindustrie international einen Namen gemacht. Er ist Mitbegründer des Rüstungs-Informations-Büros (RIB), Sprecher des Deutschen Aktionsnetzes Kleinwaffen Stoppen (DAKS) und der Deutschen Friedensgesellschaft, Vereinigte Kriegsdienstgegner (DFG-VK).
Laut Nachrichten-Magazin „Der Spiegel“ ist der Freiburger „Deutschlands wohl prominentester Rüstungsgegner“. In den 80er-Jahren war Grässlin Lehrer an der Sulzer Realschule. Damals hat er sich im Sulzer Friedensforum engagiert und das Rüstungs-Informations-Büro Oberndorf (RIO) mitgegründet.

 

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Sulzer Chronik

Dienstag

22

April 2003

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
Sulz