Andreas Ellinger

JOURNALISMUS IN WORT UND BILD

Ein Oper voller Rasse, voller Klasse

Veröffentlicht in: Berichte, Kultur

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PDFOriginalartikel aus der Südwest Presse Horb als PDF


Carmen hat mehr als 900 Zuschauer im Hof des Glatter Wasserschlosses betört

 

Die Stadt Sulz „proudly presents“? Ja, das hat Bürgermeister Gerd Hieber gesagt, als er am Samstag die Oper „Carmen“ ankündigte. Open air, im Hof des Wasserschlosses, hat Horbs Stadtmusikdirektor Sven Gnass eines seiner superlativen Vorhaben verwirklicht. Das gab es noch nie hier! Mehr als 900 Zuhörer jubelten.

Glatt. Der Glatter Schlosshof geriet zur Stierkampf-Arena. Statt einer tierischen Auseinandersetzung sah das Publikum eine tödliche Liebes-Szene. Der Dragoner Don José ersticht die leidenschaftliche Zigeunerin Carmen, weil sie einen anderen Liebhaber erobert hat. Die Solistin, die Carmen verkörpert und singt, heißt tatsächlich so – und mit dem Nachnamen Mammoser. Sie hat glänzend schwarze Haare. Kurz: Sie sieht so aus, wie man(n) sich eine Zigeunerin vorstellt.

Musikdirektor und Dirigent Sven Gnass, der die konzertante Aufführung leitete, hatte Recht, als er im Vorfeld der Open-Air-Oper sagte (um über das Fehlen der szenischen Teile hinwegzutrösten): „Aber Opernsänger spielen immer, wenn sie singen.“ Carmen kokettierte, schmeichelte, säuselte und bezirzte. Das tat sie mit ihrer Stimme, aber auch mit ihrer Gestik und Mimik – mit ihren kreisenden Hüften und ihrem Augenaufschlag. Wer wollte da widerstehen? Don José nicht. Was so ruhig und beschaulich begann, nimmt einen dramatischen Lauf. Das Orchester fällt in einen tangoartigen Rhythmus ein, als Carmen nach rund einer Viertelstunde zum ersten Mal die Bühne betritt.

Carmen arbeitet in einer Tabakwaren-Fabrik. Die Sängerinnen des Reutlinger Philharmonia-Chores agieren als ihre Kolleginnen. Sie unterbrechen ihren Gesang mitunter – beispielsweise zu Gunsten eines schrillen Lachens. Die Szenerie, die Propser Mérimée und Georges Bizet keine 100 Jahre nach der Französischen Revolution für ihre Oper ersonnen haben, lebt. Sie spielt im spanischen Sevilla. Liebe und Freiheit sind die beherrschenden Themen. Leidenschaft scheint die einzige Macht zu sein, die von der rassigen Zigeunerin namens Carmen akzeptiert wird. Wobei sie es ist, die im Besitz dieser Macht ist, die Männer betört. Sie spielt mit ihnen – letztendlich ein tödliches Spiel. Carmen tut und lässt, was sie will. Sie hilft Schmugglern, sie prügelt sich und tanzt in einer Kneipe. Ihre Kastagnetten waren auch in Glatt zu hören.

Südländisches Temperament klingt in den Melodien, gespielt von der Württembergischen Philharmonie Reutlingen. Auf dem Schlosshof verbreitet sich schnell ein mediterranes Flair. Über den zunehmend dunklen, herrschaftlichen Gemäuern, die für eine Oper wie Carmen mit ihrem Freiheits-Streben wie geschaffen sind, schimmert der bläuliche Nachthimmel. Obwohl es am frühen Abend nach Regen aussah, hat die Stadt Sulz am Open Air festgehalten und ist nicht in die Oberndorfer Neckarhalle umgezogen. Das wäre auch – freilich im Nachhinein betrachtet – ein atmosphärisch unverzeihlicher Fehler gewesen. Die Häppchen- und Getränkestände des Kultur- und Museumsvereins, die im Schlosshof und -garten standen, trugen das ihre zum Flair bei.

Auf das dramatisch-feierliche Finale des ersten Aktes –Don José hat Carmen soeben nach einer Festnahme zur Flucht verholfen – beginnt der zweite Teil der Oper mit lieblich-filigranem Orchester-Spiel. Die Harfe erklingt, ein Großteil der Streicher zupft und dazu singt Carmen das wunderschöne, teils trällernde Zigeuner-Lied. „Carmen“ gilt nicht umsonst als die volkstümlichste aller volkstümlichen Opern. Ihre Melodien haben teilweise geradezu tänzerischen Charme. Aber es wird noch temperamentvoller, noch wilder: Das Torero-Lied folgt, weil Carmen sich soeben in einen solchen verliebt hat. Sechs Solisten stehen auf der Bühne, im Finale des zweiten Aktes sind es gar sieben. Es kommt zu einem Streit. Der Hauptmann Zuniga wird von Schmugglern unter vorgehaltener Pistole entwaffnet, Don José muss eine Geliebte und ihre Freunde verfolgen.

Zwei Arien prägen den dritten Akt, die zweite gesungen von der verängstigten Michaela (Lydia Zborschil), der Verlobten von Don José. Es ist mucksmäuschenstill auf dem Schlosshof, die Samstagnacht ist hereingebrochen, der Straßenverkehr ist zum erliegen gekommen. Selbst die Vögel sind verstummt. Die gefiederten Schlossgarten-Bewohner hatten sich zuvor immer wieder zwitschernd an der Oper beteiligt. Außer dem Gesang ist jetzt nur noch das Plätschern im Wassergraben des Schlosses zu hören, bis der begeisterte Zwischenapplaus des Publikums eine Zäsur setzt.

Danach ist es vorbei mit der Ruhe, die Oper geht ihrem melodramatischen Ende entgegen. Wieder erklingen Kastagnetten. Das Orchester spielt rasant wie noch nie zuvor an diesem Abend. Unter die feurig-fetzige Melodie mischt sich Melancholie. Das Zwischenspiel leitet zum vierten Akt über, den der Chor stimmgewaltig beginnt. Die Handlung hat sich auf den Platz vor der Stierkampf-Arena verlagert. Es ertönen Motive des Torero-Liedes, die zunächst vor allem von den Blechbläsern entfaltet werden.

Das Orchester nimmt sich erst zurück, als es gilt, dem Duett von Carmen und Don José volle Aufmerksamkeit zu schenken. Die Musiker untermalen gefühlvoll. Erst als es zum offenen Streit kommt und der Gesang von Geschrei unterbrochen wird, legt das Orchester wieder zu. Die Streicher werden hektisch und transportieren die aufgeregte Atmosphäre. Eben hat Carmen ihren ehemaligen Geliebten angebrüllt: „C’est fin!“ Es ist aus. „Oh, laissez moi passer!“ Aber Don José lässt sie nicht gehen, er erdolcht sie. Das traurige Moment! Die Oper ist so abrupt wie das Leben ihrer Hauptfigur zu Ende.

Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Sulzer Chronik

Montag

30

Juni 2003

Publikation:
Südwest Presse

 

Ressort:
Sulz