„Da gibt es kein Halten mehr“
Veröffentlicht in: Berichte, Soziales
Immer mehr fallen durchs soziale Netz – die Caritas kann nur noch manche auffangen
Während die Bundesregierung in ihrem jüngsten Armuts- und Reichtumsbericht die „niedrigste Arbeitslosigkeit seit der Wiedervereinigung“ feiert, ist der Horber Caritas-Chef nach „über 30 Jahren im G‘schäft“ der Resignation nahe – weil sich „die Not drastisch erhöht“ habe, sagt Erwin Reck: „Für mich ist das nicht durchschaubar, wie das weitergehen soll.“
Horb. Die Armut ist meist schulpflichtig, alleinerziehend oder alt. Sieben Not-Fälle stehen auf der Liste von Erwin Reck. Es sind Menschen, die sich vom 11. bis 15. März, also in fünf Tagen, zum ersten Mal an die Horber Caritas gewandt haben. Hilfe suchend. Es ist eine Arbeitswoche wie jede andere im Begegnungshaus „ParaDios“ in der Neckarstraße, in dem auch Second-Hand-Kleider und Eine-Welt-Waren verkauft werden.
Der erste Hilfe-Anruf kommt am Montag von einer Mama, deren Baby noch kein halbes Jahr alt ist. Sie hat Beziehungsprobleme und will sich trennen. Sie weiß nicht wie sie Müllgebühren, Strom und die Raten für ihr Auto bezahlen soll. „Ohne Auto wäre sie aufgeschmissen und könnte nach dem Erziehungsurlaub ihren Job nicht mehr ausüben“, sagt Reck. „Sie bräuchte rund 600 Euro – sofort…“
Frühkindliche Bildung ohne Brille?
Am selben Tag meldet sich eine alleinerziehende Mutter, die 180 Euro für die Brillen von zweien ihrer Kinder benötigt. „Die Krankenkasse bezahlt die Brillengestelle nicht“, sagt der Caritas-Berater, der die Rechnungen vorliegen hat, aber seinerseits bei der Versicherung nichts erreichen konnte. Von der Agentur für Arbeit, die für „Hartz IV“-Leistungen zuständig ist, gebe es ebenfalls kein Geld. Die Sehschwäche der vier Kinderaugen liegt wohlgemerkt zwischen 1,25 und 2,25 Dioptrien. Zwar treten ungezählte Politiker als Kämpfer für die frühkindliche Bildung auf… – dass Kinder im Kindergartenalter scharf sehen können, dafür haben sie aber offenbar nicht gesorgt.
„Das ist die ,Agenda 2010“, erklärt Erwin Reck. Es klingt fast schon nach guter alter Zeit, wenn er „von früher“ erzählt… – „früher“ war, als noch keine Bundesregierung mit so genannten Sozialdemokraten „Hartz IV“ eingeführt hatte. Damals hätte die Mutter für die Brillengestelle ihrer Kinder einen Antrag beim Sozialamt stellen können, sagt der Diplom-Sozialpädagoge – der Antrag wäre als „Individualhilfe“ bewilligt worden. Heute hingegen werde es sogar erschwert, die Regelleistungen zu erhalten: „Die meisten können keinen Hartz IV-Antrag mehr stellen, geschweige denn, den Bescheid lesen. Die meisten verstehen ihn nicht mehr.“ Selbst der Profi von der Caritas tut sich inzwischen schwer, mit dem Sozialgesetzbuch zurechtzukommen: Es werde häufiger als früher verändert und umfangreicher ergänzt, erzählt er.
„Hartz IV“ hat zu einer höheren Beschäftigung geführt, wie aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung herauszulesen ist. Die damit verbundene Sozialgesetzgebung zwingt die Betroffenen dazu, fast jeden Job anzunehmen, egal, wie schlecht er bezahlt wird – andernfalls kürzt der Staat die finanziellen Leistungen. „Einer erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person ist jede Arbeit zumutbar“, heißt es im „Sozialgesetzbuch II“. Abgesehen von ein paar Ausnahmeregelungen gilt: „Erwerbsfähige Leistungsberechtigte verletzen ihre Pflichten, wenn sie trotz schriftlicher Belehrung über die Rechtsfolgen oder deren Kenntnis sich weigern, eine zumutbare Arbeit […] aufzunehmen, fortzuführen oder deren Anbahnung durch ihr Verhalten verhindern.“ Und: „Bei einer Pflichtverletzung mindert sich das Arbeitslosengeld II“, Hartz IV genannt. „Die Wirtschaft profitiert“, sagt Reck.
Ein Teil der Geringverdiener rennt die Türen des Tafelladens in Horb ein. Die Caritas musste die Voraussetzungen für eine Einkaufsberechtigung auf das „Hartz IV“-Niveau senken. „Wir können nicht mehr leisten, weil wir nicht so viele Waren bekommen können“, bedauert Erwin Reck, der trotzdem wöchentlich neue Kunden verzeichnet. 119 Einkaufskarten habe die Caritas ausgegeben, im Durchschnitt werde pro Karte für drei Personen eingekauft. „Normalerweise müssten auch Leute aus der Unteren Mittelschicht zum Einkauf berechtigt sein“, sagt der Sozialunternehmer und verweist auf Familien, die sich eine Wohnung gekauft haben und zu wenig verdienen, um Zinsen zahlen und sich versorgen zu können. „Wenn jemand berufstätig ist, wenig verdient und ein Auto braucht, hat er nicht mehr zum Leben als ein Hartz IV-Empfänger.“
Wie wenig das ist, schildert der Caritasleiter am Beispiel eines alleinstehenden Hartz IV-Empfängers, der fast 60 Jahre alt ist und psychische Probleme hat. „Sowas hab‘ ich selten mal erlebt“, sagt Erwin Reck und meint die Ausgabendisziplin des Mannes: „Der rechnet tatsächlich mit dem Cent.“ Jede Woche hole sich der Arbeitslose 25 Euro von der Bank. „Wenn er nicht im Tafelladen einkaufen könnte, würde ihm das nicht reichen.“
Einer Frau Anfang 60 drohe dasselbe Schicksal. Sie habe früher bei einer Behörde gearbeitet, dann mehrere Kinder groß gezogen und später nur noch Arbeit bei einer Zeitarbeitsfirma gefunden, die sie schließlich gekündigt habe. Jetzt lebe sie von 580 Euro Arbeitslosengeld im Monat – ab November drohe ihr Hartz IV. Erwin Reck fasst zusammen, auf was es hinauslaufen wird: „Eine Frau, die ihr Leben lang geschafft hat, kriegt jetzt aufs Alter hin Hartz IV.“
Selbst, wenn jemand nicht arbeitslos werde, könne ihn die Altersarmut treffen, sagt der Caritasleiter. Immer mehr Menschen müssten zu Dumpinglöhnen arbeiten: „Die haben alle mal eine bescheidene Rente und werden davon nicht leben können. […] Wenn früher einer 1200 Mark Rente hatte, dann konnte er davon leben – wenn Du heute 600 Euro hast, dann hast Du keine Chance.“
Politisch sei es „nie besser geworden“, sagt der Armutsbekämpfer im Rückblick. Nach mehr als 30 Jahren in der Sozialberatung ist er verzweifelt: Es sind viel zu viele Notlagen, als dass er noch befriedigend helfen könnte. Er erzählt von Familien, die in alten Wohnungen mit hohen Energiekosten leben und irgendwann den Strom abgestellt bekommen, weil sie ihn nicht mehr bezahlen können. Die Stromkonzerne würden sich oft nicht einmal auf Ratenzahlungen einlassen, sondern erst wieder liefern, wenn die Altschulden vollständig beglichen seien, sagt Reck: „Die achten nicht darauf, ob Kleinkinder in einem Haushalt leben.“
„Eine unverschämte Bereicherung“
Hinzu kommt: Jeder Einzelfall, in dem die Caritas helfen kann, „zieht zwei bis drei Fälle nach sich“ – durch persönliche Empfehlung der Betroffenen. Die Sozialverbände könnten es aber nicht auffangen, was die Bundestags-Mehrheit mit der „Agenda 2010“ in die Wege geleitet habe, sagt Erwin Reck. „Ich sehe keine Lösung – auch in Anbetracht dessen, wie sich die politische Situation darstellt.“ Auf der einen Seite sei „eine unverschämte Bereicherung“ bei Managern und anderen zu beobachten – auf der anderen Seite habe sich „die Not drastisch erhöht“. Erwin Reck: „Früher wurde vom sozialen Netz gesprochen. Inzwischen sind die Maschen teilweise derart groß… – da gibt es kein Halten mehr.“
Info: Die Caritas ist auf Spenden angewiesen: Konto 115 933, Bankleitzahl 642 510 60, Kreissparkasse Freudenstadt. Wer seine Adresse angibt, erhält eine Spendenquittung.
Andreas Ellinger, Südwest Presse Horb, Horber Chronik